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Geheimverhandlungen in der Mensa

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Wie schnell aus Spiel Ernst werden kann, erfuhren dreißig Studenten, die im Historischen Seminar der Universität Frankfurt/Main in einem „Planspiel“ die Rollen von Staatsmännern und Diplomaten während der „Julikrise 1914“ übernahmen. Der „Bericht über eine innovative Lehrveranstaltung“ (Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Heft 5-6/04) resümiert mit sichtlichem Entsetzen, daß die Spielhandlung sukzessive „Rasanz“ und „Eigendynamik“ entwickelt habe, bis sogar „persönliche Angriffe“ zu registrieren waren und „Emotionalität die Oberhand“ gewonnen habe. Da „kontrafaktische Geschichte“ durchaus erwünscht gewesen sei, hätten sich die Teilnehmer in ihre Rollen so weit hineingesteigert, daß sie sich als deutscher Reichskanzler, französischer Premier oder britischer Außenminister auch in der Mensa oder bei „Geheimverhandlungen“ am Wochenende noch „im Amt“ gefühlt und alles daran gesetzt hätten, einen diplomatischen Sieg für „ihr Land“ zu erringen. Schade nur, daß das Resultat dieses gruppendynamischen Experiments nicht verraten wird. Jedenfalls bestätigt dieses Planspiel im kleinen, was Friedrich Kießling im selben Heft über die vorwiegend „unterkomplexen“ historiographischen Bemühungen berichtet, mit denen seit neunzig Jahren der Ausbruch des Ersten Weltkrieges zu erklären versucht werde. Allemal verfehlen monokausale Modelle – wie die in der bundesdeutschen Geschichtspolitik lange erfolgreiche und bis heute noch in Kanzler Schröders Reden präsente These Fritz Fischers vom wilhelminischen „Griff nach der Weltmacht“ – die „Komplexität der Vorkriegsgeschichte“. Die europäischen Mächte seien auch keinesfalls zwangsläufig in die „Julikrise“ geraten, der Kriegsausbruch nicht unvermeidlich gewesen. Denn die „internationalen Krisen“ vor 1914 seien stets von einer Politik der „Détente“ und „Deeskalation“ ausgependelt worden. Diese geradezu pazifistischen Strömungen in den internationalen Beziehungen berechtigen, von einer „Ära der Entspannung“ zu sprechen. Gerade weil viele Uhren auf „Entspannung“ gestellt waren, sei die wahre Kriegsgefahr der „Julikrise“ nicht erkannt worden. Ebensowenig sei man über den mörderischen Charakter eines technischen Krieges im unklaren gewesen und sei deshalb leichtfertig der Illusion erlegen, einen „schnellen Krieg“ führen zu können. Reichskanzler Bethmann-Hollweg wie Kaiser Wilhelm II. hätten einen wahren Horror vor der Möglichkeit solcher Massenschlächtereien gehabt. Abwegig seien auch Konstruktionen einer spezifisch deutschen Kriegsmentalität, die auf den Mord von Sarajewo gewartet habe wie Pawlows Hund auf das Klingelzeichen. Und auch die angeblich europaweit von militaristischen Dispositionen zeugende Kriegsbegeisterung im August 1914 sei allenfalls in größeren Städten ausgebrochen. Die Mentalität der Mächtigen wie „ihrer“ Völker erfasse man wohl besser mit der „Anerkennung der Ambivalenzen“, der Hypothese vom „Vorhandensein verschiedener Einstellungen in ein und derselben Person“, die von theoretisch schwer zu erfassender „Angstlust“ (Joachim Radkau) geprägt seien, also jenem Maß an menschlicher „Irrationalität“, das nicht nur „Planspiele“ außer Kontrolle geraten läßt.

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