Von Bismarck ist der Satz überliefert, im östlichen Mitteleuropa seien „nur historische Staaten möglich“. Nationalstaaten könnten dort nicht gegründet werden, denn eine nationale Atomisierung würde Mitteleuropa auflösen und in einem Krieg der Rassen enden. Den dortigen Status quo seiner Zeit sah er aber positiv. Das damalige Durcheinander der Völker im Raum zwischen Deutschen und Russen galt ihm als von Gott gewollter Reichtum. Im Pangermanismus sah der deutsche Reichsgründer dagegen ebenso eine Bedrohung dieser Ordnung wie im Panslawismus. An diesem Beispiel läßt sich sehen, wie genau historische Prognosen gelegentlich zutreffen. Die Zerstörung der historischen Monarchien in Preußen, Rußland und Österreich-Ungarn und die Nationalisierung Osteuropas nach 1919 führte recht präzise zu dem von Bismarck vorhergesagten Ergebnis. Eine Kette völkischer Konflikte brach aus, und nachdem seit 1939 ein heißer Krieg in Gang war, trafen Panslawismus und Pangermanismus im Zeichen einer totalitären Bevölkerungspolitik aufeinander, die von Bismarcks „gottgewollter Ordnung“ nichts mehr übriglassen sollte. Der Abend des 23. Juni 1940 hielt dabei für den deutschen Botschafter in Moskau eine ganz besondere Überraschung bereit. Sowjetrußlands Außenminister Wjatscheslaw Molotow teilte Graf Schulenburg lapidar mit, die Lösung der sogenannten Bessarabienfrage dulde keinen Aufschub mehr und werde jetzt angegangen werden, notfalls mit Gewalt. Seit Monaten hätte Rumänien nichts unternommen, um eine „Lösung herbeizuführen“, worunter Molotow selbstverständlich nichts anderes verstand als die bedingungslose Übergabe des Gebietes an die UdSSR. Beiläufig erhob Molotow sowjetischen Anspruch auf die Bukowina. Damit war ein kleines Gebiet angesprochen, das derzeit zu Rumänien gehörte, früher einmal österreichisch-ungarisches Territorium gewesen war, aber jedenfalls noch nie, auch zu Zarenzeiten nicht, zu Rußland gezählt worden war. Beiden Regionen gemeinsam waren die zahlreichen dort lebenden Deutschen, denen jetzt die Sowjetisierung ihrer Heimat drohte. Schulenburg telegraphierte am gleichen Abend nach Deutschland, für diese Menschen müsse dringend Vorsorge getragen werden. Der ganze Vorgang schlug in Berlin ein wie die sprichwörtliche Bombe und führte zunächst dazu, daß sich Hitler von Außenminister Ribbentrop noch einmal vorlegen und interpretieren ließ, was er 1939 im Geheimprotokoll mit der UdSSR eigentlich unterschrieben hatte. Auch wenn die Bukowina damals nicht erwähnt worden war, Bessarabien hatte man der UdSSR damals tatsächlich als „Einflußgebiet“ zugeschanzt. Horst Köhler ist ein Prototyp der Polyethnie Osteuropas Am Ende stand in diesem Fall einmal mehr die Evakuierung der Deutschen, wie das vorher schon in den baltischen Ländern passiert war, als die UdSSR sie zu okkupieren begann. Die Auslöschung der zahlreichen deutschen Bevölkerungsinseln im östlichen Mitteleuropa nahm ihren Fortgang, und das lag trotz der unerwarteten Erpressung durch die UdSSR durchaus im nationalsozialistischen Kalkül, hatte Hitler sie doch im Oktober 1939 öffentlich als „unhaltbare Volkssplitter“ bezeichnet. Für die Betroffenen, unter denen sich auch die Eltern des designierten Bundespräsidenten Horst Köhler befanden, begann eine jahrelange Odyssee. Sie führte, den Intentionen nationalsozialistischer Siedlungspolitik gemäß, die meisten in die von Deutschland annektierten Gebiete Vorkriegspolens. Die deutsche Regierung arbeitete mit Hilfe der Evakuierten auf eine Wiedereindeutschung der 1918 zunächst verlorenen Gebiete hin und zielte außerdem auf eine Erweiterung des deutschen Siedlungsgebiets. Mit der Eskalation des Krieges wurde dies Makulatur. Wie an anderen Stellen radikalisierten sich die Pläne der NS-Führung auch hier in einem schwer nachvollziehbaren Prozeß. Er ist unter dem Stichwort „Generalplan Ost“ bekannt geworden, dessen Inhalt allerdings je nach militärischer und politischer Lage schwankte. Nach dem Angriff auf die UdSSR breitete sich so in der SS-Führung die Idee aus, Deutsche noch weiter östlich anzusiedeln. Die zeitweilige Umsetzung dieses Plans wird der Bundesrepublik wohl in Kürze einen Präsidenten bescheren, der im polnischen „Generalgouvernement“ im Februar 1943 zur Welt kam. Dessen Geburtsurkunde wurde von der SS gestempelt und mit der Bemerkung unterzeichnet, er sei „im ersten Jahr der deutschen Besiedlung“ geboren worden. Mit einem Teil der Bessarabiendeutschen war auch die Familie Köhler dorthin umgesiedelt worden. Ein Zentrum gegen Vertreibungen müßte auch an diese Episode im Prozeß der ethnischen Säuberung ganz Osteuropas erinnern, dessen Endergebnis 1945 den Intentionen der panslawistischen Bewegung sehr nah kam. Für die deutschen Siedlungsstrukturen in Ostmitteleuropa bedeutete dies das Aus, das traf die neugeschaffenen so gut wie die jahrhundertealten, unabhängig von jeder Täter-Opfer-Dialektik.