Owain Glyndwr ist ein walisischer Volksheld. Keiner von heute, sondern einer aus dem späten Mittelalter. An Glyndwrs Aktualität ändert das aber nichts. Im Gegenteil. Der William Wallace von Wales erfreut sich in dem kulturgeschichtlich wie naturräumlich sehr heterogenen Land wachsender Beliebtheit. Ebenso wie der als schottischer Bauernführer angetretene Wallace (1272-1305), Protagonist des Kinoepos „Braveheart“, brachte er den verhaßten Nachbarn England an den Rand einer Niederlage. Allerdings war Glyndwr nicht niederer Herkunft, sondern Sproß einer Adelsfamilie, die mit allen bedeutenden Geschlechtern von Wales in Verbindung stand. 2004 erreicht die Erinnerung an den großen Rebellen einen neuerlichen Höhepunkt, denn das ganze Land erinnert sich der Einberufung des ersten walisischen Parlaments durch Glyndwr im Städtchen Machynlleth 1404, also vor 600 Jahren. Vorangegangen waren erbitterte Gefechte mit den übermächtigen Engländern, die das unwirtliche Wales bereits im 13. Jahrhundert unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Die Revolte nahm am 16. September 1400 ihren Anfang und währte bis 1409. Es gab triumphale Siege, etwa in den Schlachten von Hyddgen, Pilleth oder in Stalling Down, wo der von den Aufständischen nicht anerkannte englische König Heinrich IV. eine vernichtende Niederlage gegen die von französischen Hilfstruppen unterstützten Gefolgsleute Glyndwrs hinnehmen mußte. Die Niederlage von 1409 beendete alle Autonomie Zwischenzeitlich sah es durchaus so aus, als könnte sich die Vision einer unabhängigen walisischen Nation erfüllen. Owain Glyndwr unterzeichnete eine Art zwischenstaatlichen Vertrag mit Frankreich, das sich zu dieser Zeit mitten im Hundertjährigen Krieg (1339-1453) gegen England befand. Nach der Parlamentssitzung in Machynlleth 1404, auf der Glyndwr von seinen Landsleuten zum Prinzen von Wales gekrönt wurde, hielt er in den darauffolgenden zwei Jahren weitere Nationalversammlungen in Harlech und Dolgellau ab. Ebenfalls 1404 fielen den Walisern die strategisch bedeutsamen Festungen Criccieth, Harlech und Aberystwyth in die Hände. Doch letztlich wurde der blutige Aufstand im wahrsten Sinne des Wortes zusammengeschossen, als die Burg Aberystwyth – eine Premiere in der Geschichte der britischen Insel – mit schweren Geschützen angegriffen und dann ausgehungert wurde. Der Winter 1408/09 war für die Waliser traumatisch, denn die Bewohner zahlloser Siedlungen froren und hungerten zu Tode. Die französischen Alliierten segelten in ihre Heimat zurück, und 1409 kapitulierte auch die von Hunger und Krankheit ausgezehrte Besatzung von Burg Harlech, der wichtigsten Versorgungsbasis Glyndwrs. Dessen Frau, die Kinder und Enkelkinder fielen dort den Engländern in die Hände. Über das Ende des Prinzen ist sehr wenig bekannt. Wahrscheinlich starb er als verbitterter Mann in der Einsamkeit der walisischen Berge. Handfeste wissenschaftliche Informationen über das Lebenswerk des Rebellen werden von der erst Ende 1996 ins Leben gerufenen Owain Glyndwr Society (Cymdeithas Owain Glyndwr) gesammelt. Doch der Mythos Glyndwr zieht viel weitere Kreise. So wurden beispielsweise 2000 anläßlich des 600. Jahrestages des Aufstands die walisischen Schulen monatelang mit dem Drachenbanner beflaggt. Am kräftigsten schlägt das Herz von Wales (walisisch: Cymru) zweifellos auf dem „Eisteddfod“. Alljährlich findet dieses größte nicht ortsgebundene Volksfest Europas im Wechsel in Nord- oder Südwales statt. Diesmal war die Stahlstadt Newport im Südosten an der Reihe. Vom 31. Juli bis 7. August versammelten sich dort Aktivisten der walisischen Kultur aus allen Landesteilen zwischen Cardiff und Cardigan, Welshpool und Holyhead sowie viele Auslandswaliser aus Nord- und Südamerika oder Australien. Angelockt wurden sie von den Auftritten der berühmten Chöre oder der „Krönung des Barden“. Bei dieser handelt es sich um mehr als um ein im 19. Jahrhundert erfundenes keltisches Spektakel, zu dem die in wallende weiße, blaue oder grüne Gewänder gekleideten Mitglieder der Druiden-Orden die mystische Kulisse abgeben. Vielmehr hat die Zeremonie, zu der sich auch Abordnungen aller anderer anderen keltischen Gebiete – Irland, Schottland, Cornwall, Bretagne, Isle of Man – einfinden, eine sehr reale Bedeutung. Da die Waliser bekanntlich über keinen eigenen Staat verfügen, der Verdienste um die walisische Sprache und Kultur würdigt, tut dies eben die Versammlung der Druiden, der „Gorsedd“. Die „Barden-Krönung“ für die beste literarische Meisterleistung des zurückliegenden Jahres und die damit verbundene Aufnahme in den Gorsedd ist für walisische Dichter die größte denkbare Anerkennung und macht sie unter ihren Landsleuten schlagartig berühmt. Dem erlauchten Gremium gehören heute etwa 1.500 Mitglieder an: Politiker, Bischöfe oder Rugbyspieler und natürlich Musiker wie Dafydd Iwan, der musikalisch das Zeug zu einem internationalen Star hat, aber nicht den Preis zahlen will, seiner Karriere zuliebe auf englisch statt auf walisisch zu singen. Iwan gehört zu jener inzwischen stark wachsenden Gruppe von Walisern, die sich von den einst weitverbreiteten Minderwertigkeitskomplexen gegenüber den Engländern verabschiedet haben. Leute wie er fühlen sich einer lange Zeit kaum wahrgenommenen nationalkulturellen Bewegung verpflichtet, deren Anhänger auch dafür gesorgt haben, daß auf dem Eisteddfod seit 1937 bis heute sämtliche Ansprachen, Lieder- und Gedichtwettbewerbe ausschließlich in walisischer Sprache zu hören sind. Wer unter den Zuhörern des Walisischen nicht mächtig ist, bekommt über Kopfhörer eine Simultanübersetzung geliefert. Das gilt vor allem für die Gäste aus England, von wo Wales seit den Acts of Union 1536/43 mitregiert wird. Zwischenzeitliche Zweifel, daß man angesichts der noch vor einem Jahrzehnt feststellbaren Zurückdrängung des Walisischen buchstäblich nicht mehr verstanden werden könnte, sind vom Tisch. Die oft totgesagte Sprache erlebt – nicht zuletzt dank massiver Fördermaßnahmen des Regionalparlaments in Cardiff – eine fast wundersame Neubelebung, nachdem noch vor wenigen Jahrzehnten die Encyclopaedia Britannica zum Stichwort Wales notierte: „For Wales, see England“! Erst 1956 erlaubte England den Walisern eine eigene Hauptstadt, nämlich Cardiff, und 1959 schließlich eine offizielle walisische Flagge, den roten Drachen auf grün-weißem Feld. Noch heute kennt jeder Engländer das berüchtigte, um 1780 entstandene anti-walisische Kinderlied „Taffy was a Welshman, Taffy was a thief …“ (Taffy war Waliser, Taffy war ein Dieb …). Umgekehrt wird der Waliser, der ein Rugby-Tor gegen England erzielt, zum Volkshelden. Gerade bei diesem Sport finden alte Animositäten und der angestaute Frust über die eigene politische, kulturelle und wirtschaftliche Machtlosigkeit ihr Ventil.
Die walisische Sprache war bis in unsere Tage verpönt Die Wurzeln hierfür liegen weit zurück: Im Gefolge der Acts of Union wanderte die anglisierte Aristokratie nach England ab, und Wales blieb ohne eigene Führungsschicht. Nur das gemeine Volk sprach noch Walisisch; vom 17. Jahrhundert an war die Sprache dann regelrecht verpönt. 1870 wurde die allgemeine Schulpflicht mit dem erklärten Ziel eingeführt, die walisische Sprache völlig auszulöschen. Bis Ende des 19. Jahrhunderts mußten walisische Kinder in der Schule ein Holzbrett um den Hals tragen, wenn sie beim Walisischsprechen ertappt wurden (ähnlich wie in Irland). Wurde ein anderes Kind bei der gleichen Untat erwischt, bekam dieses das Holzbrett. Wer es am Ende des Tages trug, erhielt vom Lehrer eine Tracht Prügel. Zusätzlich bedroht wurde die Sprache zuletzt durch den Anfang der 1980er Jahre eingesetzten massiven Zuzug von Engländern und die allgegenwärtige Medienpräsenz des Englischen. Da hilft es nur bedingt, daß ein Fernsehkanal, S4C, seit 1982 täglich vier bis fünf Stunden auf walisisch sendet. Doch selbst dieses Zugeständnis der britischen Zentralregierung geschah nicht freiwillig, sondern war die Folge der Drohung des damaligen Präsidenten der national orientierten Partei Plaid Cymru („Partei von Wales“), Gwynfor Evans, sich sonst zu Tode zu hungern. Eine walisische Nationalpartei gibt es bereits seit 1925, anfangs mit wenig Erfolg. Die Menschen in den armen Bergbaugebieten hatten andere Sorgen als den Erhalt der walisischen Sprache und Kultur. In den 1930er Jahren gab es Arbeitslosenraten von bis zu fünfzig Prozent. In dieser Situation versprach man sich am ehesten von der Labour-Partei Hilfe. 1966 gewann Plaid Cymru ihr erstes Parlamentsmandat. In jüngster Zeit gab es bei Unterhauswahlen zweistellige Zustimmungsraten. Allerdings konzentrieren sich die Wähler der Nationalpartei nach wie vor auf die Hochburgen im Nordwesten. Dort gibt es die meisten Walisischsprachigen und evangelischen Nonkonformisten sowie eine besonders große Zahl von verhaßten englischen Zweitwohnsitzen. Der Durchbruch zu einem stärkeren walisischen Nationalbewußtsein und einer weitergehenden Selbstregierung ließ lange auf sich warten. Im Jahre 1964 wurde in einem ersten Zugeständnis ein spezieller Wales-Minister an der Spitze eines Wales-Ministeriums (1951) eingesetzt. 1979 bot die damals regierende Labour-Partei den Walisern im Rahmen ihrer geplanten Anti-Zentralisierungsgesetze erstmals ein eigenes Parlament an. Doch lediglich 20,3 Prozent der Abstimmenden sprachen sich bei einem Referendum dafür aus. Viele befürchteten, eine regionale Autonomie könnte ein erster Schritt zur Abspaltung des wirtschaftlich von Großbritannien abhängigen Wales sein. Im zweiten Anlauf war es 1997 endlich soweit. Die Labour-Partei erfüllte ihr Wahlversprechen, in Schottland wie in Wales über eigene Volksvertretungen abstimmen zu lassen. Während die Schotten das Begehren mit überwältigender Mehrheit unterstützten, erklärte sich in Wales am 18. September 1997 nur eine haarscharfe Mehrheit von knapp 51 Prozent für die Welsh National Assembly. Anders als das Parlament in Edinburgh, dem laut der Londoner Gesetzesinitiative zur Regionalisierung vom 24. Juli 1997 auch legislative Befugnisse und sogar eine Finanzautonomie eingeräumt wurden, kann die Volksvertretung in Cardiff weder Gesetze erlassen, noch besitzt sie die Steuerhoheit.
Das Nationalsymbol des roten Drachens findet man überall Anfangs von den meisten Leuten gleichmütig aufgenommen, erfreut sich das im Mai 1999 einberufene Parlament im Sanierungsgebiet von Cardiff Bay wachsender Beliebtheit. Insbesondere in der Kulturpolitik konnten bereits nach kurzer Zeit Erfolge erzielt werden. Zwar sprechen von den knapp drei Millionen Einwohnern nur etwa zwanzig Prozent im Alltag Walisisch, und im bergigen, seit jeher unzugänglicheren Norden ist deren Anteil nach wie vor viel größer als im industrialisierten und teils anglisierten Süden (in der nordwestlichen Grafschaft Gwynedd sind es satte 61 Prozent, gegenüber lediglich 2,5 Prozent im südöstlichen Gwent). Aber schon seit dem Welsh Language Act von 1993 ist die Tendenz eindeutig: Walisisch ist „in“ und Englisch „out“. An den Schulen sind beide Sprachen Pflicht, und immer mehr bieten Walisisch als Unterrichtssprache an. Orts- und Straßenschilder sowie alle offiziellen Schriftstücke sind zweisprachig gehalten. Im Berufsalltag kommt es mittlerweile häufiger vor, daß zugewanderte Engländer oder des Walisischen nicht kundige Waliser über Karrierenachteile klagen. Im August 2000 klagte ein älteres englisches Ehepaar aus Swansea wegen aufkommender „Engländer-Feindlichkeit“ sogar beim walisischen Race Equality Council, dem Amt für Rassengleichheit. Zwar gehört das größenmäßig mit Hessen vergleichbare Wales nach dem Zerfall des Bergbaus zu den Armenhäusern des Kontinents, aber nicht nur in der einst berüchtigt häßlichen Hauptstadt Cardiff gibt es erste positive Anzeichen eines bescheidenen Wirtschaftswunders nach irischem Vorbild. Auch die Besinnung auf die eigene Geschichte als Nachfahren jener Ureinwohner Britanniens, die wahrscheinlich schon vor den keltischen Stämmen hier lebten und später deren Sprache und Identität annahmen, ist allgegenwärtig. Bekannte Persönlichkeiten, die Wales hervorgebracht hat, sind in den regionalen Medien ein Dauerthema, so etwa der britische Ministerpräsident im Ersten Weltkrieg, David Lloyd George, der Dichter Dylan Thomas, sein abenteuerlustiger Kollege Lawrence von Arabien oder der Schauspieler Richard Burton. Das Nationalsymbol des roten Drachens findet man an allen möglichen Orten: im Supermarkt, in Schaufenstern, an Tankstellen oder in Pubs. Und viele Autos fahren mit Schildern, die neben den Europasternen nicht das Staatskürzel UK für „United Kingdom“ tragen, sondern CYM für Wales. Gerade die jungen Leute sind stolz darauf, Waliser zu sein. Sie wollen, daß ihre Heimat mehr ist als ein bloßes Anhängsel Englands, und folgen hierin mit friedlichen Mitteln dem Vermächtnis des großen Rebellen Owain Glyndwr. Foto: Englische Trutzburg Caernarfon in Nordwales und Waliser Flagge: Walisisch ist „in“, Englisch „out“