BERLIN. Mehr als 40 Prozent der jungen deutschen Akademiker überlegen, nach Ende ihres Studiums ins Ausland abzuwandern. 2022 waren es noch lediglich 27 Prozent, wie eine Studie der Ernst & Young Wirtschaftsprüfungsgesellschaft (EY) zeigt, über die die Welt berichtet.
Mehr als 2.000 Studenten wurden befragt. Insgesamt 16 Prozent gaben an, sie würden sich nach ihrem Abschluß „sehr wahrscheinlich“ eine Arbeit in einem anderen Land suchen. 25 Prozent erklärten, dies sei bei ihnen „eher wahrscheinlich“. Für „eher unwahrscheinlich“ hielten es 32 Prozent. 27 Prozent gaben an, eine Abwanderung sei „sehr unwahrscheinlich“.
Junge Männer zieht es etwas häufiger ins Ausland – zu 42 Prozent –, während Frauen nur zu 40 Prozent Deutschland den Rücken kehren wollen. Die Werte stiegen aber bei beiden Geschlechtern.
„Alarmsignal für die deutsche Wirtschaft“
Der Personalleiter und Geschäftsführungsmitglied bei Ernst & Young, Jan-Rainer Hinz erklärte, insgesamt habe bei jungen Menschen die „Bereitschaft, ihr familiäres oder studentisches Umfeld zu verlassen“, zugenommen. Während diese Bereitschaft während der Corona-Jahre einen vorübergehenden Einbruch erlitten habe, steige sie seitdem deutlich an.
Primäre Gründe für die Abwanderung ins Ausland seien höhere Gehälter sowie die schwache Wirtschaftslage in Deutschland – vor allem in der Industrie. Demnach sei etwa ein Viertel der von EY befragten Studenten in Ingenieurswissenschaften oder Informatik-Fächern eingeschrieben.
Die EY-Partnerin Nathalie Mielke nannte die Abwanderungsabsichten „von gut ausgebildeten Fachkräften“ ein „Alarmsignal für die deutsche Wirtschaft“. Industriezweige würden weiter händeringend nach Fachkräften suchen. „Wenn tatsächlich in großem Stil gut ausgebildete Akademiker Deutschland verlassen, wird das den Fachkräftemangel weiter verstärken“, sagte Mielke. Als Alternative könnten deutsche Firmen allerdings „attraktive Möglichkeiten, Karrierestationen im Ausland zu absolvieren“ bieten.
Auswanderer sind zufriedener mit ihrem Leben
Die stärkste Abwanderungswilligkeit gibt es bei Studenten in Berlin, wo 57 Prozent darüber nachdenken, in Bremen, wo es 54 Prozent tun, und im Saarland, wo dieser Wert bei 53 Prozent liegt. Am niedrigsten ist sie in Mecklenburg-Vorpommern, wo lediglich zehn Prozent der Studenten mit einer Auswanderung sympathisieren. In Rheinland-Pfalz sind es 29 Prozent und in Sachsen 31 Prozent.
Für einen großen Teil der Auswanderer scheint sich der Schritt über die Grenzen jedenfalls zu lohnen. So veröffentlichte das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) im Dezember eine Studie, laut der sich die Lebenszufriedenheit von Deutschen im Durchschnitt deutlich erhöht, nachdem sie ins Ausland abgewandert sind.
Der Soziologe und BiB-Mitarbeiter Andreas Genoni kommentierte die Forschung mit den Worten: „Umzüge ins Ausland von deutschen Staatsangehörigen verbessern das subjektive Wohlbefinden spürbar.“ Tatsächlich steige die Lebenszufriedenheit nach einer Auswanderung „etwa doppelt so stark wie bei einem Umzug innerhalb Deutschlands“.
Hohe Mieten treiben Auswanderungen voran
Besonders Singles profitieren dabei von Auswanderungen. Die geringste Veränderung des Wohlbefindens zeigen Personen, die lediglich zugunsten eines Partners auswandern.
Der deutliche Anstieg der Lebenszufriedenheit war selbst zwei Jahre nach der Auswanderung noch feststellbar. Bei einem längeren Aufenthalt im Ausland flache der Effekt zwar etwas ab, sei tendentiell aber immer noch feststellbar, heißt es in der Studie. Zudem lasse sich der Rückgang möglicherweise dadurch erklären, daß sich Auswanderer nach einiger Zeit an ihr besseres Leben gewöhnten.
Als Treiber der Auswanderungsbewegungen benennen die Autoren der Studie unter anderem steigende Mieten. Das zeige sich unter anderem daran, daß besonders aus den Städten abgewandert werde, während „weniger besiedelte Gebiete Wanderungsgewinne haben“.
Fachkräftemangel erzeugt Schaden von 49 Milliarden Euro
Deutschland hat bereits seit mehreren Jahren mit einem Fachkräftemangel und der Abwanderung von Fachkräften ins Ausland zu kämpfen. Bereits im Jahr 2022 wies die Bundesagentur für Arbeit insgesamt 200 sogenannte Engpaßberufe aus, in denen qualifizierte Arbeiter fehlen.
Von 2019 bis 2023 sind zudem rund 3,6 Millionen Deutsche im Erwerbsalter von 20 bis 64 Jahren aus Deutschland weggezogen, wie die Bundesregierung im Juli in einer Antwort auf eine AfD-Anfrage bekannt gab. Pro Jahr ziehen etwa 210.000 deutsche Staatsbürger im Alter von 20 bis 40 Jahren ins Ausland, berichtete das Handelsblatt im August.
Der Fachkräftemangel verursachte im Jahr 2024 für den Wirtschaftsstandort Deutschland einen geschätzten Schaden von 49 Milliarden Euro, berichtete das Institut der Deutschen Wirtschaft im Mai. 2023 konnten 570.000 Stellen nicht besetzt werden. (lb)