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Die ganze Wahrheit bleibt im dunkeln

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Das Denken vom unbegrenzten wirtschaftlichen Wachstum ließ in West wie Ost Vorstellungen über die Zahl der nötigen Atomkraftwerke steigen. In den siebziger Jahren formierte sich im Westen mit einigen Erfolgen Protest gegen den Bau von Atommeilern, einmal aus „antikapitalistischen“ Motiven heraus, ein andermal aus Sorge um atomare Risiken nach der Beinahe-Katastrophe in Harrisburg 1976. Währenddessen machte sich die Sowjetunion daran, ein ehrgeiziges Atomprojekt zu planen, nämlich elf Reaktorblöcke nahe der am Dnepr gelegenen nordukrainischen Stadt Tschernobyl zu errichten. Anfang 1986 waren vier Blöcke fertig. Dann sollte sich bei einem Test in dem nach Lenin benannten Atomkraftwerk Tschernobyl am 25. und 26. April 1986 eine Tragödie abspielen. Der Reaktorkern flog etwa 50 Meter hoch und verdampfte Getestet werden sollte ein Luftkühlsystem im Havariefall. Dafür wurde der Reaktor auf halbe Leistung heruntergefahren und das Notkühlsystem abgestellt. Probleme traten auf, doch der Reaktor sollte zur Stromerzeugung weiterlaufen, weil auch ein anderes ukrainisches Atomkraftwerk Schwierigkeiten meldete. Gegen Vorschriften wurde verstoßen, handwerkliche Fehler gemacht. Der Reaktor wurde am 25. April um ein Uhr, 18 Minuten und 58 Sekunden instabil, der Versuch fortgesetzt. Die Automatik versuchte, einen Leistungsanstieg zu bremsen. Um ein Uhr, 23 Minuten und 46 Sekunden stieg die Reaktorleistung stark an. Vier der sechs Hauptspeisepumpen stoppten. Der Druck stieg, Sicherheitsventile öffneten sich. Es ereignete sich ein Bruch in Druckrohren. Starke Erschütterungen machten sich bemerkbar. Die Abschaltsysteme blieben stecken, die Stromversorgung fiel aus. Am 25. April, um ein Uhr und 24 Minuten wurde der 2.500 Tonnen schwere Deckel auf dem Reaktorschacht hochgeschleudert, der Reaktorkern flog etwa 50 Meter hoch und verdampfte zum Teil. Die nukleare Explosion hatte fast den gesamten Kernbrennstoff in die Umwelt geworfen. Zu diesem Größten Anzunehmenden Unfall (GAU) äußerte Moskau erst am 28. April, daß es im 4. Reaktor ein technisches Problem gegeben habe. Am 29. April rief die Sowjetunion den Westen um Rat, wie der Brand im defekten Reaktor unter Kontrolle gebracht werden könnte, woraus Experten schließen konnten, was passiert sein mußte. Radio Warschau meldete zu dieser Zeit eine radioaktive Wolke über dem Land. Noch am 30. April hatte KP-Chef Michail Gorbatschow in einer Mitteilung an US-Präsident Ronald Reagan erklärt, daß „das Niveau der Verseuchung etwas über der erlaubten Norm liegt, aber nicht so viel, daß es spezielle Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung auslösen würde.“ Diese Bagatellisierungen führten dazu, daß die Bevölkerung unnötig lange der Radioaktivität aus Tschernobyl ausgesetzt war und Kinder über Tage belastete Kuhmilch tranken. Der Unglücksreaktor wurde eingesargt, die sowjetische Sicherheitstechnik nach dem Mauerfall mit Gutachten aus dem Westen bedacht und mit Neuerungen versehen. Der Europäische Rechnungshof rügte Mitte der neunziger Jahre, daß eine halbe Milliarde Dollar für Arbeiten am AKW Tschernobyl ausgegeben wurden, aber nur knapp ein Drittel Belege nachwies, daß das Geld auch dort ankam, wo es hingehörte. Der frühere Ostblock wurde für die westliche Atomlobby ein neuer Markt und Atommüll dorthin geliefert, obwohl die Endlagerfrage ungelöst blieb. Gleichzeitig sei auch unter der rot-grünen Bundesregierung kaum ein Interesse auszumachen gewesen, die „Risiken und die bereits vorhandenen Schäden, mit denen die Bevölkerung hier wie dort konfrontiert ist, auch nur wahrzunehmen“, wie der Präsident der Gesellschaft für Strahlenschutz in Berlin, Sebastian Pflugbeil, im Jahrbuch Naturkonservativ heute 2003 schreibt. Über das „wahre Ausmaß des Unfalls“ will 20 Jahre nach der Katastrophe eine vom Tschernobyl-Forum herausgegebene Arbeit mit dem Titel „Tschernobyls Vermächtnis“ Auskunft geben. Das Forum untersteht der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEA) und der Weltgesundheitsorganisation (WHO). In deren Pressemitteilung ist gleich zu Anfang davon die Rede, daß „bis zu viertausend Personen an der Strahlung sterben könnten“. Bis Mitte 2005 seien „weniger als 50 Tote direkt auf die Strahlung durch den Unfall“ zurückzuführen gewesen. Die Gesellschaft für Strahlenschutz und die Ärzteorganisation IPPNW weisen darauf hin, daß hier nur von der am stärksten belasteten Gruppe die Rede sei und in einer weiteren Gruppe noch einmal 5.000 Todesopfer ausgewiesen würden. Drittens sei auf die Schwierigkeit hinzuweisen, daß Daten zum Ablauf der Tschernobyl-Katastrophe nicht frei zugänglich seien. Vergleichswerte seien unmöglich anzustellen, weil Wanderungsbewegungen nur unvollständig rekonstruierbar seien. Bis zu 25.000 Krebstote und etwa 100.000 Abtreibungen Auch seien kontaminierte Nahrungsmittel in saubere Gebiete gelangt. Vor diesem Hintergrund könnten nicht ohne weiteres richtige Opferzahlen falschen gegenübergestellt werden, sondern es könnten nur Anhaltspunkte für Gesundheitsschäden festgestellt und hochgerechnet werden. Allein die im Bericht angegebene Literatur, auf die sich ihre Opferangaben stützen, würde von 10.000 bis 25.000 zusätzlichen Krebs- und Leukämietoten sprechen. „Die offiziellen Verlautbarungen der IAEA und der WHO manipulieren sogar die eigenen Daten“, lautet das Urteil der IPPNW und der Gesellschaft für Strahlenschutz. Da 53 Prozent der in Tschernobyl 1986 freigesetzten radioaktiven Strahlung außerhalb der ehemaligen Sowjetunion niederging, müßten auch die verbleibenden 47 Prozent in einer Gesamtrechnung berücksichtigt werden, womit man auf „28.000 bis 69.000 Krebs- und Leukämietote infolge der Tschernobylkatastrophe weltweit“ käme. Offiziell wurden vorsorglich etwa 100.000 Abtreibungen vorgenommen. Fest steht, daß unter der Medienkontrolle einer Diktatur viel über das Ausmaß gelogen wurde. Die ganze Wahrheit wird es nie geben, weil die meisten Todesopfer nur in Größenordnungen hochgerechnet werden können – aber was heißt hier „nur“? Medizinische Hilfe bleibt für Hunderttausende Menschen notwendig – das sollte bei allem Engagement für die weltweite Renaissance der Atomtechnik nicht vergessen werden. Foto: Beton-Sarkophag von Block 4 des AKW Tschernobyl: Weltweite Renaissance der Atomtechnik geplant Studien zu Tschernobyl finden sich im Internet: IAEA-Studie: www.iaea.org/NewsCenter/Focus/Chernobyl/pdfs/pr_ger.pdf9 IPPNW-Studie: „Gesundheitliche Folgen von Tschernobyl – 20 Jahre nach der Reaktorkatastrophe“ unter www.ippnw.de

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