Die Lage im deutschen Gesundheitswesen ist seit Januar verworrener denn je. Die etwa 73 Millionen gesetzlich Versicherten sind verunsichert – nicht nur durch die heißdiskutierten zehn Euro Praxisgebühr und die Auslegung des Begriffs „chronisch krank“, der über die Höhe der Eigenbeteiligung entscheidet (ein oder zwei Prozent des Jahreseinkommens). Den Kassen und den Ärzten geht es genauso. Die ständigen Diskussionen um den Inhalt des neuen Gesundheitsmodernisierungsgesetzes (GMG) reißen nicht ab. Die mit dem GMG beabsichtigte Senkung des durchschnittlichen Krankenkassenbeitragssatzes von 14,3 auf 13,6 Prozent wird kaum zu schaffen sein – einige billige Betriebskrankenkassen (BKK) erhöhten zum Jahresbeginn sogar kräftig ihre Beiträge. Am 15. Januar informierte die Kassenärztliche Vereinigung Bayerns (KVB) die bayerischen Ärzte darüber, wann eine Praxisgebühr von Patienten zu zahlen ist und wann nicht. Auf 24 Seiten sind die einzelnen Vorschriften dezidiert aufgelistet. Allerdings, so die KVB, ist das ein vorläufiges Regelwerk, das wahrscheinlich noch geändert wird. Allein im Fall einer Behandlung eines Patienten im Bereitschaftsdienst hat der behandelnde Arzt sechs Möglichkeiten, Praxisgebühr zu erheben oder es zu unterlassen. Wird der Notarztwagen gerufen, soll keine Praxisgebühr abgefordert werden. Erfolgt die Erstinanspruchnahme eines Arztes im Notfall, muß die Praxisgebühr gezahlt werden. Kaum war die Frage um die Praxisgebühr vorläufig geregelt, ging es um die Definition, wer chronisch krank ist. Der Gesetzgeber will den chronisch Kranken zwar entlasten, hat sich aber der Deutungshoheit des Begriffs versagt. Die Selbstverwaltung wollte sich natürlich nicht den Schuh anziehen, als Kostensparkommissare für den Gesetzgeber „Bütteldienste“ zu leisten. Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) drohte den Krankenkassen und Ärzten mit Sanktionen. Wenn die Selbstverwaltung nicht willens sei, eine passable Definition zu liefern, würde sie sich überflüssig machen. Flugs einigten sich die Vertreter von Kassenärzten und Krankenkassen am 22. Januar darauf, daß ein Mensch dann schwer chronisch krank ist, wenn er sich in Dauerbehandlung befindet und mindestens einmal im Quartal auf ärztliche Behandlung angewiesen ist. Eigentlich nicht mehr vorgesehen war die Erstattung von Beförderungskosten durch die Krankenkassen. Das aber brachte Taxen-Betreiber, Behinderte und deren Angehörige in Rage. Schon wurde die Selbstverwaltung gezwungen, Voraussetzungen zu definieren, unter denen doch Fahrtkosten zu ersetzen sind. Jetzt erfolgt eine Kostenerstattung von Taxikosten bei ärztlich verordneter Strahlentherapie, Chemotherapie und Dialyseverfahren sowie bei schwerer Gebehinderung oder Blindheit. Die radikale Kürzung der Fahrtkostenerstattung ist damit Vergangenheit, ohne Gegenwart geworden zu sein – der beabsichtigte Einspareffekt ebenfalls. Die Programme zur Behandlung chronisch Kranker (Disease Management-Programme/DMP), die im Gesundheitswesen Milliarden Euro einsparen sollen, haben die Krankenkassen auf Trab gebracht. Rund 2.000 Anträge auf Akkreditierung für DMP lagen Ende 2003 beim Bundesversicherungsamt vor, damit die Kassen für die in den Programmen eingeschriebenen Versicherten zusätzliche Mittel aus dem sogenannten Risikostrukturausgleich erhalten. Die Programme werden – so zeigt eine Studie des Berliner IGES-Instituts – auch bei optimaler Gestaltung zu keiner Einsparung für die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) führen. Vielmehr seien mit der Verknüpfung von Disease-Management und Risikostrukturausgleich für die Kassen massive Anreize vorhanden, möglichst viele Patienten in die DMP einzuschleusen. Das IGES hat errechnet, daß mit Mehrkosten von drei bis vier Milliarden Euro allein bei den bisher eingeführten bzw. geplanten Indikationen (Diabetes mellitus 2, Brustkrebs, Koronare Herzkrankheit, chronische Atemwegserkrankungen) gerechnet werden muß. Grund dafür ist, daß die Programme nach den Erkenntnissen der Wissenschaftler des Instituts zu unstrukturiert sind. Für den Erfolg des DMP-Diabetes ist eine Fülle von Risikofaktoren positiv zu beeinflussen, damit überhaupt ein meßbarer Effekt auf Spätkomplikationen der Krankheit erzielt wird. Ohne optimale Einstellung der Patienten, wozu eine stringente Befolgung ärztlicher Vorgaben durch den Patienten (Compliance) über Jahre nötig ist, ist der hohe Kostenaufwand sinnlos. Die erforderliche Compliance ist aber nur bei einer Minderheit in der „Unterschicht-dominierten Zielgruppe“ durch Intensivberatung und -schulung zu erreichen. IGES hält ein Achtel der Diabetiker für Disease-Management-fähig. Das Gesundheits-Modernisierungsgesetz sieht im neuen Paragraphen 65 a Sozialgesetzbuches V (SGB V) vor, daß die Krankenkassen den Versicherten einen Bonus gewähren können, die regelmäßig Leistungen zur Früherkennung von Krankheiten oder qualitätsgesicherte Leistungen der Krankenkassen zur primären Prävention in Anspruch nehmen. Auch Versicherten, die sich bei einer hausarztzentrierten Versorgung (Hausarztmodell), bei DMPs zur Behandlung chronischer Krankheiten oder bei einer integrierten Versorgung einschreiben, können die Krankenkassen Zuzahlungen per Satzung ermäßigen. Die Ortskrankenkassen haben ein bundesweites Programm aufgelegt, das über die in Paragraph 65 a SGB V gegebenen Möglichkeiten hinausgeht. Zusätzlich Beiträge sollen teilweise rückerstattet werden, wenn der Versicherte nicht zum Arzt geht. Außerdem erlaubt das AOK-Angebot den Versicherten, einen Selbstbehalttarif zu wählen und damit einen Teil der Behandlungs- und Verschreibungskosten selbst zu zahlen. Beide Möglichkeiten sind aber nach Paragraph 53 und Paragraph 54 SGB V nur den freiwilligen Mitgliedern der GKV vorbehalten. Bayern hat deshalb dieses AOK-Programm als nicht gesetzeskonform gerügt und will dafür keine Genehmigung erteilen. Es wäre ein leichtes für den Gesetzgeber, das AOK-Angebot den Pflichtmitgliedern zugänglich zu machen. Das GMG müßte es auch den Pflichtmitgliedern ermöglichen, Selbstbehalttarife zu wählen und in den Genuß von Rückerstattungen zu kommen. Das GMG krankt an handwerklichen Fehlern, die eine Umsetzung in der Praxis erschweren. Alle Fehler im Gesetz zu berichtigen würde aber dauernde Unruhe mit sich bringen. Gerade das aber braucht das deutsche Gesundheitswesen jetzt nicht. Ministerin Ulla Schmidt durch einen ausgewiesenen Fachmann zu ersetzen wäre eine Alternative, um eine Reform der Reform in Angriff zu nehmen.
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