Der Tod Benno Ohnesorgs löste an allen westdeutschen Universitäten Empörung aus. Oskar Negt, damals Assistent am Philosophischen Seminar, äußerte vor fast zehntausend Teilnehmern auf einer Solidaritätskundgebung am Frankfurter Römerberg, zwar handle es sich „nicht im traditionellen Sinne um einen politischen Mord“, gleichwohl müsse die Tat „als Mordanschlag“ charakterisiert werden.
Wenige Tage später sprach Theodor W. Adorno auf einer Diskussionsveranstaltung des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) anläßlich der Erschießung Ohnesorgs vom „einer repressiven Gesellschaft innewohnenden Sozialsadismus“.
Am 21. November wird Karl-Heinz Kurras von der 14. Großen Strafkammer des Landgerichts Moabit von der Anklage der fahrlässigen Tötung freigesprochen. Der Vorsitzende Richter räumt jedoch ein, daß das Urteil auch das Gericht nicht befriedige, und erklärt wörtlich: „Kurras weiß mehr, als er sagt. Und er macht den Eindruck, als wenn er in vielen Dingen die Unwahrheit gesagt hat!“
42 Jahre später wissen wir es nun besser. Ob der Stasi-Spitzel Kurras in der Rolle eines agent provocateur Benno Ohnesorg erschoß, um so einerseits die Westberliner Polizei als „militaristisch“ zu denunzieren und andererseits durch seine Tat größere Unruhen auszulösen, kann bis jetzt freilich nur spekuliert werden.
Genauso spekulativ ist auch die Frage, ob die Geschichte der Bundesrepublik anders verlaufen wäre, wenn die Wahrheit über Kurras in der Außerparlamentarischen Bewegung und ihrer Avantgarde, dem SDS, bekannt gewesen wäre. Möglicherweise hätte sich tatsächlich eine ganze Reihe nachdenklicher Linker anders verhalten und von ihrem frommen Selbstbetrug Abstand genommen, die DDR sei das „bessere Deutschland“.
Kritisch, aber nicht feindselig gegenüber Moskau
Auf den harten Kern, der sich später in der linksterroristischen Roten Armee Fraktion (RAF) und in der „Bewegung 2. Juni“ wiederfand und der – wie sich nach deren unrühmlichem Ende herausstellen sollte – ohnehin ein inniges Verhältnis zur DDR und zur Stasi pflegte, hätte auch dies mit Sicherheit keinerlei Eindruck gemacht.
Dagegen herrschte im Bundesvorstand des SDS und bei der Mehrheit der Mitglieder gegenüber dem autoritären, bürokratischen und dogmatischen Staatssozialismus der DDR, der SED und der Sowjetunion eine durchaus kritische, wenngleich auch keineswegs feindselige Haltung. Die marxistische Utopie der „Produzentendemokratie“ und der „Emanzipation der Massen“ sah man im stalinistisch verkrusteten und von einer abgehobenen Funktionärsclique beherrschten DDR-System in keiner Weise erfüllt. Doch gab es natürlich auch im SDS eine Minderheit, für die vor allem die Hochschulgruppen in Marburg und Bonn standen, die den „traditionalistischen“, der KPD/DKP nahestehenden Flügel repräsentierte und in der DDR ihr großes Vorbild sah. Die Feindschaft dieser „Moskowiter“ ging gar soweit, daß sie Anfang August 1968 während der IX. Weltjugendfestspiele in Sofia gemeinsam mit bulgarischen Geheimdienstleuten mit Gewalt gegen den SDS-Bundesvorsitzenden Karl Dietrich Wolff und andere Moskau-kritische Teilnehmer vorgingen, um diese am Reden zu hindern. Legendär ist auch die Beschimpfung Rudi Dutschkes als „Linksfaschist“ durch den SDS-„Moskowiter“ Hannes Heer auf der XXII. Delegiertenkonferenz im September 1967.
Vor diesem Hintergrund wäre es nun vielleicht auch an der Zeit, jenseits banaler Verschwörungstheorien den Mordanschlag auf Rudi Dutschke noch einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. Als charismatische Führungsfigur des antiautoritären und DDR-kritischen SDS-Flügels stellte er für die „Moskowiter“ und deren Stasi-Genossen durchaus ein Haßobjekt dar. Seine Erkenntnis, daß die politische Macht des sowjetischen Imperialismus und seiner Vasallen auf purer Militärmacht beruhte und das DDR-System nicht anders denn als bürokratischer Staatsabsolutismus zu bezeichnen sei, machte ihn gewissermaßen zum Todfeind der Stalinisten.
So wie der Tod Benno Ohnesorgs heute in einem neuen Licht erscheint und neu aufgerollt werden muß, wird man wohl auch zukünftig mit weiteren Überraschungen zu rechnen haben.
Werner Olles war Ende der 1960er Jahre Mitglied im Frankfurter SDS, engagierte sich danach in Splittergruppen der Neuen Linken und gehörte von 1973 bis 1977 den Jungsozialisten an.