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„Untergehn will euer Selbst“

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„Untergehn will euer Selbst“

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Die Französische Revolution habe, so Ernst Jünger, eine Querschnittslähmung der abendländischen Kultur bewirkt. Daß ein solches Elementarereignis auf das Verhältnis des Menschen zum Tod durchschlug, liegt auf der Hand. Oder sollte es sich umgekehrt verhalten: daß der politische Vorgang nur die Oberfläche einer Veränderung in der religiösen Sphäre war? Wie dem auch sei: Der Wandel muß sich in der Gestalt unserer Friedhöfe widergespiegelt haben, so wie auch die heutigen Bestattungsformen — die Kremation und die Anonymisierung vornehmlich — Bände sprechen, freilich nur zu demjenigen, dessen Sinn für das tiefste Anliegen der Religion und der Kultur überhaupt nicht verschüttet ist: die Todesfurcht zu bannen. Der Gang über historische Friedhöfe, deren sich, wenn auch von Umweltschäden und dem Mangel an Wertschätzung zunehmend bedroht, in Deutschland viele erhalten haben, erschließt den Sinn allerdings nur beim unmittelbaren Vergleich der Begräbnisstätten mehrerer Epochen, hier also jener vor und nach 1789. Daß es dabei nicht auf die genaue Jahreszahl ankommt und man grobhin die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert ansetzen darf, versteht sich: Der Friedhof ist schließlich kein Schauplatz der Bastillestürme. Ohnehin ist zu unterscheiden zwischen den Vorstellungen der freien Geister und denen des Volkes. Was 1789 Allgemeingut wurde, war dem Gebildeten schon seit Jahrzehnten selbstverständlich gewesen. In welcher Weise die Französische Revolution den Sinn für den Tod veränderte, deutet die Ansicht des französischen Philosophen Marie-Jean Caritat (1743—1794) an: Der Marquis de Condorcet meinte, der Tod lasse sich besiegen — nicht erst auf religiösem Wege, sondern auf Erden durch den Fortschritt. Auch wenn dabei möglicherweise noch eine Portion Witz hineinspielte: Der Wegweiser war aufgestellt. Zwei Grabdenkmalen soll sich im folgenden unsere Aufmerksamkeit zuwenden. In ihrer jeweiligen Art sind sie nichts Außergewöhnliches, vielmehr Serienware ihrer Zeit. Sie finden sich auf dem historischen Friedhof der Residenzstadt eines ehemaligen deutschen Zwergstaates, der, abseits der großen Wege gelegen, nie an der Tete der Entwicklung ritt, dessen Lage im Windschatten der Geschichte also gute Voraussetzungen für das Überwintern alter Grabdenkmale aus der Zeit von 1735 bis Mitte des 20. Jahrhunderts auf engstem Raum bot und uns heute die Gelegenheit zum unmittelbaren Vergleich bietet. Das erste Denkmal aus der Zeit von 1783 besteht aus nichts anderem als der jahrhundertelang gebräuchlich gewesenen Grabplatte, wie wir sie allenthalben an den Wänden alter Kirchen — aus Platzgründen inzwischen vertikal aufgestellt — vorfinden, in unserem Fall allerdings noch in ihrer ursprünglichen horizontalen Bodenlage, im Fachjargon: „in situ“. Sie bedeckt also die Gebeine und dient nur nebenbei der Information des Betrachters. Das läßt auf eine hohe Wertschätzung der Überreste des Verstorbenen schließen. Die Richtigkeit dieser Annahme gründet sich auf die in jener Zeit noch durchgängige Vorstellung von der leiblichen Auferstehung. Es galt deshalb, nach Möglichkeit seine materielle Substanz am Tag des Jüngsten Gerichts beisammen zu haben — eine Vorstellung, deren gleichnishafte Wahrhaftigkeit sich nicht mit dem abwegigen Verdacht einer damaligen Unkenntnis von der Vergänglichkeit der Substanz in Frage stellen läßt. Erwägenswert erscheint hingegen eine andere Frage, ob nämlich die Vorstellung von der leiblichen Auferstehung nicht etwa dem Buckligen gegenüber unfair sei. Sie beantwortete sich einst aus dem Geist heraus, der den die Vollkommenheit der Schöpfung verteidigenden Immanuel Kant auf eine Beschwerde eines Buckligen über sein hartes Schicksal antworten ließ, Gott habe ihn, den Buckligen, für einen solchen doch recht gut gemacht. Was besagen will, daß auch dem Buckligen eine Rolle im Weltenschauspiel zugemessen ist. Und nur deshalb will auch der Bucklige nicht minder als jeder andere leben — und leiblich auferstehen. Das zweite Grabdenkmal aus dem Jahr 1802 — ihm gesellen sich mehrere gleicher Art aus den zwei folgenden Jahrzehnten zu — atmet einen ganz anderen Geist: Es ist keine deckende Grabplatte mehr, sondern eine geschrumpfte, nur noch „bedeutende“ Platte, eine Stele nämlich, deren Aufgabe ausschließlich die Mitteilung der Botschaft des Verstorbenen oder richtiger: der Überlebenden ist. Die Botschaft versammelt sich in dem bildlichen Teil, der einen geschlüpften und über zurückgelassener, unansehnlicher „Materie“ schwebenden Schmetterling zeigt. Die Darstellung will natürlich weder zoologische Erkenntnisse veröffentlichen noch naturschützerische Absichten bekunden. Der Schmetterling symbolisiert vielmehr die Seele des Verstorbenen. Diese hat den Kokon verlassen, und zwar für immer. Der Kokon bleibt — als Müll — zurück. Eine für den Buckligen frohe Botschaft? Oder sollte sich nicht gerade hierin ein Fragwürdigwerden der unverwechselbaren und einmaligen Existenz des konkreten Menschen ausdrücken? Der Mensch, soweit er wirklich, also in konkrete religiöse, kulturelle und nationale Verhältnisse eingebunden, nicht austauschbar — und deshalb nicht restlos vernutzbar — ist, entspricht nicht der losgelösten, abstrakten Idealität des Seelenschmetterlings. Was für den Buckligen gilt, gilt für uns alle, die wir in konkrete Verhältnisse eingebunden sind und deshalb die nur uns eigene Art, unsere Besonderheit mit allen Vorzügen und Nachteilen — sichtbare und unsichtbare Buckel eingeschlossen — vorzuweisen haben, mit anderen Worten: die wir „in der Erbsünde“ leben. Die Französische Revolution war die Geburtshelferin der linken und liberalen Weltanschauungen. Ihnen zufolge ist es dem Menschen möglich, die Welt in ihrem Gesamtzusammenhang, in ihrem Funktionieren zu verstehen — und sie deshalb auch zu lenken. Der utopische Entwurf entfaltet sich frei von der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit — die des Menschen in seiner kulturellen, religiösen und nationalen Gebundenheit — wird zum Übergangs- und Untergangsobjekt. Wir spüren hier den Machtanspruch des Jakobinertums, das die Definitionsmacht über Inhalt und Grenze von Seele und Kokon beansprucht, und sehen die Gefahr des liberalen Totalitarismus wetterleuchten. Der einzelne wird nun bewertet und damit ganz oder teilweise abgewertet. Er läuft Gefahr, als Stolperstein auf dem Weg zum Glück der Menschheit wahrgenommen zu werden, etwa als aus dem Weg zu räumender Klassen- oder Rassenfeind. Die Entwertung des Menschen, soweit er in seiner Gebundenheit existiert und nicht in der Idealität, erfaßt am Ende auch den Leichnam. Dem Kokon ist die Entsorgung zugeordnet. Nur wenige Jahrzehnte später wird in Gotha das erste deutsche Krematorium den Betrieb aufnehmen. Die durch den Schmetterlingsschlupf versinnbildlichte Ablösung der Seele vom Leib besagt deshalb mehr als die Abkehr von der Vorstellung von der leiblichen Auferstehung. Hinter dem Schmetterling und dem Kokon schimmern die beiden Ordnungsmodelle durch, die sich in der Französischen Revolution abglichen: zum einen der Absolutismus — jene Ordnung, der es gelungen war, die Glaubenüberzeugung des einzelnen in einen apolitischen Innenraum abzudrängen und so Europa für die Dauer von fast zwei Jahrhunderten von der Geißel des Glaubens- und damit Bürgerkriegs zu befreien. Und zum anderen die Aufklärung, welche den in jenen apolitischen Innenraum verbannten und so privat gewordenen Glauben, eben die schmetterlingshaft reine Moral, emporzüchtete und ihn schließlich gegen den Staat antreten hieß. So gelang es — Reinhart Koselleck hat diesen Vorgang minutiös beschrieben — am Ende dem aufklärerischen Moralismus, den notwendigerweise die Macht handhabenden und deshalb schmutzig-kokonhaften Staat zur Strecke zu bringen. Die Emanzipation der Seele vom Leib meint deshalb auch die Emanzipation der Moral von der Politik und der Gesellschaft vom Staat sowie die Entwertung des Leibes, der Politik und der Institution des Staates. Daß dieser Vorgang als Schmetterlingsschlupf dargestellt wird, also in Gestalt nicht einer offenen Auseinandersetzung, sondern einer zeitlichen und von vornherein auf ein bestimmtes Ergebnis angelegten Entwicklung, läßt den Schleier sichtbar werden, dessen sich der Machtanspruch des aufklärerischen Moralismus bedient, um sich möglichst lange unsichtbar zu machen: die Fortschrittsphilosophie. Der Revolutionsverlauf, der entgegen den Heilsversprechen nicht in das Paradies der Moral, sondern in die Wiederkehr des Bürgerkriegs gemündet war, machte die Zauberlehrlinge ratlos. „Einst blickte die Seele verächtlich auf den Leib: und damals war diese Verachtung das Höchste: — sie wollte ihn mager, gräßlich, verhungert. So dachte sie ihm und der Erde zu entschlüpfen.“ Dem Rückblick des Diagnostikers Friedrich Nietzsche entging auch nicht, daß es sich bei der Veränderung um nichts Geringeres als um eine Art Querschnittslähmung handelte: „Untergehn will euer Selbst, und darum wurdet ihr zu Verächtern des Leibes!“ Er, der eigentliche Erfinder der Triebpsychologie und Psychoanalyse, forderte deshalb die Kehre: „Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine Vernunft.“ Ein Zeitgenosse teilte sein Bestreben, den Schmetterling vom Kopf auf die Füße zu stellen: Karl Marx, der den Leib freilich anders als Nietzsche nicht als ein Gespinst der Triebe, sondern als einen ökonomischen Mechanismus verstanden wissen wollte. In der Macht weder des einen noch des anderen lag es, den eigentlichen Sündenfall des Schmetterlings, die Zerreißung der Einheit von Leib und Seele, Moral und Politik, Staat und Gesellschaft, ungeschehen zu machen. Die Leib-Seele-Betrachtungen belebten nämlich nicht nur die Gelehrtenstuben, sondern hatten begonnen, die neuen Antagonismen des geborstenen Gesellschaftskörpers zu munitionieren: die schweren Geschütze für die anstehenden Bataillen des europäischen Bürgerkriegs wurden in Stellung gebracht. Der klassizistischen Schmetterlings­ikonographie folgte deshalb unverzüglich der romantische Rückgriff auf eine betont historisch-religiöse Form, die des neugotischen Grabdenkmals. Der Rückgriff war wie alle zweiten Aufgüsse eine Ausflucht, das Vorspiel eines Endes. Dann erlosch das Bedürfnis, mittels des Grabdenkmals einen metaphysischen Bezug zur Todesfrage herzustellen. Fortan will das Grabdenkmal nur noch eine lapidare Karteikarte sein. „Er kannte das Gesetz“ — kaum einer durfte es später noch wagen, dergleichen auf seinen Stein meißeln zu lassen. Die Heimat sei das Haus und das Grab ein Teil der Heimat, vermerkte Carl Schmitt. Die Schmetterlingsseele hat demgegenüber den Kokon, die Erde, für immer hinter sich gelassen. Sie schwebt frei und bedarf keines Hauses mehr. „Nur wo Gräber sind, gibt es Auferstehungen“, wußte Nietzsche, Sohn eines protestantischen Geistlichen, woraus der katholische Schmitt im Zeitalter der Kremation die Konsequenz zog: „Verbrennung, Einäscherung, ist Vernichtung der Auferstehungsmöglichkeit.“ Glücklich, das Glück erfunden zu haben, blinzelt indessen der letzte Mensch; er hat die Todesfrage mit der Palliativmedizin und der — wer wollte daran noch zweifeln? — vor ihrem Durchbruch stehenden Euthanasie beantwortet. Der Tod gilt ihm nicht mehr als Mysterium, sondern als eine Tatsache aus dem Bereich der Zoologie. Von hier aus überblicken wir schärfer, weshalb unsere Friedhöfe heute keine Orte der Beruhigung mehr und, funktionslos werdend, dabei sind, ästhetisch und real zu vergehen; und weshalb, wer sich einen Rest des heute meist pantheistisch gefaßten Glaubens bewahrt hat, das von ihm Verbleibende lieber der Natur, Friedwäldern und Ruheforsten, überantwortet als den überkommenen Schemen der Gemeinschaft der Lebenden und Toten. Doch entsteht nicht aus der Asche der Vogel Phönix, ein Reich der Luft, ein neuer Zyklus also? Schmitt läßt auch solche Hoffnungen nicht gelten: „Diese Periodizität bedeutet das Versinken des Menschen in der Natur und damit die Zurückweisung der Geschichte. Der Glaube an die Natur ist eine Flucht, eine Problematisierung, die nicht auf der Höhe des Zeitalters der technischen Planung steht, weil die Technik fähig ist, die Natur zu vernichten und ihren Platz einzunehmen.“ Antworten sind von unseren Friedhöfen nicht mehr zu erhoffen. Indessen bleiben die Fragen.   Gernot Hüttig, Jahrgang 1943, arbeitete seit 1970 als Jurist. Auf dem Forum der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt über „Widerstand und Terror“ (JF 37/02). Foto: Klassizistische Schmetterlings­ikonographie auf einer Grabstele, nach 1800: Die Entwertung des Menschen, soweit er in seiner je konkreten Gebundenheit existiert und nicht in der Idealität, erfaßt am Ende auch den Leichnam. Dem Kokon ist die Entsorgung zugedacht.

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