Nachdem zum 1. April die Gesundheitsreform in Kraft getreten ist, hat nun auch die Diskussion um die Gesetzliche Pflegeversicherung (GPV) eingesetzt, die 1995 aus der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ausgekoppelt wurde und seither gesondert geregelt wird. Ziel der Pflegepflichtversicherung war seinerzeit, die Grundabsicherung von Pflegebedürftigen zu gewährleisten. Schon damals wußten die Mitglieder der christlich-liberalen Regierungskoalition, daß die Geburtenzahlen seit Mitte des 20. Jahrhunderts rückläufig sind. Auch der Umstand, daß aufgrund der Familienplanung der Geburtenjahrgänge 1937 bis 1949 die Geburtenzahlen im Jahre 1972 erstmals niedriger waren als die Sterbezahlen, war dem damaligen Kabinett Kohl/Genscher bekannt. Dennoch hat man das Risiko, Pflegefall zu werden, nicht zum Anlaß genommen, der Bevölkerung die Notwendigkeit der „geistig-moralischen Wende“ in der Bevölkerungspolitik zu verdeutlichen. Fachleute hatten den damaligen Arbeitsminister Norbert Blüm („Die Rente ist sicher“) eindringlich vor einer Umlagefinanzierung der Pflegeversicherung gewarnt. Die Geburtenzahlen Westdeutschlands waren 1995 mehr als zwei Jahrzehnte permanent niedriger als die Sterbefälle. Nach der Wende stürzten die Geburtenzahlen in den neuen Bundesländern ab. Dennoch entschied man sich im Rausch von Wiedervereinigung und Osterweiterung zum weiteren Ausbau des Sozialstaates. Seitdem leisten wir uns eine Gesetzliche Pflegeversicherung (GPV) mit Solidaritätsprinzip, in der im Juli 2005 ca. 90 Prozent der Bevölkerung versichert und integriert sind (71,29 Prozent freiwillige oder Pflichtmitglieder und 28,71 Prozent mitversicherte Familienangehörige). Das Solidaritätsprinzip sichert einen einkommensabhängigen Beitrag (im Unterschied zu alters- und risikobezogenen Prämien der Privatversicherung) und einen sozialversicherungsrechtlichen Anspruch auf ausreichende, bedarfsgerechte, dem allgemeinen Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende sowie wirksame und humane Versorgung, die das Notwendige nicht überschreitet und ohne Rücksicht auf Einkommen und sozialen Status zu erfolgen hat (Sozialgesetzbuch V und XI). Mit den Beiträgen von insgesamt 50 Millionen Beitragszahlern und ihren Arbeitgebern werden mehr als 70 Millionen Versicherten in der GPV Leistungen versprochen. Die im Umlageverfahren erhobenen Beiträge für die GPV werden mit der Aufnahme eines versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses fällig. Der Beitragssatz beträgt 1,7 Prozent des sozialversicherungspflichtigen Bruttoeinkommens. Kinderlose im Alter von über 23 und unter 65 Jahren zahlen einen Zuschlag von 0,25 Prozent ihres Bruttoeinkommens (ohne Arbeitsgeber-Anteil). Die Arbeitgeber werden mit 0,85 Prozent der Lohn- und Gehaltssumme für die GPV belastet. Insgesamt betragen die Lohnnebenkosten über 40 Prozent. Bei einem Durchschnittseinkommen von 2.450 Euro im Monat in der Sozialversicherung sind dies in der Summe aller Sozialversicherungen über 1.000 Euro monatlich. Diese teilen sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer ca. zur Hälfte. Ein Arbeitgeber hat für einen Arbeitnehmer mit Durchschnittseinkommen eine Belastung von 2.950 Euro pro Monat zu tragen. Hinzu kommen die Beiträge zur Unfallversicherung an die Berufsgenossenschaft, die der Arbeitgeber alleine zahlt. Das Problem eines umlagefinanzierten Pflegesystems, bei dem mit der ersten Beitragszahlung alle Leistungsansprüche erworben werden, besteht darin, daß zu wenigen Nettozahlern eine wachsende Zahl von Leistungsempfängern gegenübersteht. Dieses System einer solidarischen Pflegeversicherung ist nun selbst zum Pflegefall geworden. Das hat verschiedene Gründe: das demographische Phänomen der Überalterung der Gesellschaft; die statistische Verschiebung des Krankheitsspektrums von Akutkrankheiten hin zu kostenintensiven chronischen Erkrankungen; der medizinische Fortschritt mit immer kostenintensiveren medizinischen Therapien; der strukturell begründete Wandel des Arbeitsmarktes mit immer weniger sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen. Betrugen die Rücklagen der GPV 1995 noch 3,5 Milliarden, sanken sie in den folgenden Jahren bis auf ein jährliches Defizit von mehreren hundert Millionen Euro. Die Ausgaben der fünften Säule der Sozialversicherung haben sich von 5 Milliarden Euro 1995 auf 17,7 Milliarden Euro in 2004 mehr als verdreifacht. Bereits seit 1999 ist der Saldo negativ, es wird auf die in den ersten Jahren aus den Einnahmen aufgebauten Rücklagen zurückgegriffen. 2004 betrug das Defizit 820 Millionen Euro. Für die Rücklagen bedeutet das: Vom Höchstwert von 1995 von fast 5 Milliarden Euro sind sie 2005 auf 3,05 Milliarden geschrumpft. Dies entspricht 2,01 Monatsausgaben. Die Rücklagen werden voraussichtlich 2007 vollständig aufgebraucht sein. Die Entwicklung der Ausgaben ist nach Angaben des Bundesministeriums für Gesundheit vor allem auf die steigende Zahl von Leistungsempfängern zurückzuführen. Diese Entwicklung führt im Ergebnis zu stetig steigenden Beitragssätzen. Der Gesetzgeber hat bislang vergeblich versucht, den Trend der steigenden Kosten zu stoppen. Seit 1995 sind 900 Verordnungen mit Tausenden Einzelbestimmungen im Pflegebereich erlassen worden, ohne daß der Ausgabenanstieg nachhaltig gebremst werden konnte. Rechnet man die vorhandene Ausgabenentwicklung hoch, so ergibt sich für das Jahr 2040 ein Beitragssatz für die GPV von 4,5 Prozent und für 2055 ein Beitragssatz von 5,5 Prozent des sozialversicherungspflichtigen Bruttoeinkommens. Zusammen mit den anderen Abgaben für die Sozialversicherung müßten dann zwei Drittel des Bruttoeinkommens für Sozialabgaben aufgewendet werden. Das Problem eines umlagefinanzierten Pflegesystems, bei dem bereits mit der ersten Beitragszahlung alle Leistungsansprüche erworben werden, besteht darin, daß zu wenigen Nettozahlern eine immer größer werdende Zahl von Nettoleistungsempfängern gegenübersteht. Da beim Umlageverfahren die laufenden Ausgaben aus den aktuellen Einnahmen gedeckt werden, wirken sich Veränderungen auf der Einnahme- oder Ausgabenseite schnell dramatisch aus. Deutlich wird dies in der Generationenbilanz, deren Verlauf schlichtweg als katastrophal zu bezeichnen ist: Unter den lebenden Generationen gibt es keine einzige, die selbst beim optimistischsten Verlauf Nettozahlungen leistet. Die langfristige Finanzierung der GPV wird also nur durch zukünftige Generationen getragen. Die Mehrbelastung ist im pessimistischsten Szenario mit 23.177 Euro fast doppelt so hoch wie in der optimistischen Variante mit 11.844 Euro. Die Nachhaltigkeitslücke, die im Prinzip ausdrückt, ob die Summe aller Generationen mehr Leistungen erhält, als sie selbst an Beiträgen über die restliche Lebenszeit zahlen, beträgt im günstigsten Fall 29,4 Prozent, im ungünstigsten 55,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Berechnungen des Instituts für Finanzwissenschaft der Universität Freiburg zeigen, daß unter diesen (konservativ) geschätzten Bedingungen alle lebenden Generationen Nettoleistungsempfänger sind und es kein Durchschnittsindividuum eines Jahrganges gibt, das auch nur annähernd den Barwert der voraussichtlichen Leistungen durch Beiträge bezahlt. Unterdessen steigt die Zahl der Pflegefälle von Jahr zu Jahr. 1995 begann es mit 1.061.418 Pflegefällen, 1996 waren es 1.546.746 Pflegefälle, 2005 waren es 1.951.953 Pflegefälle, und für 2010 werden insgesamt 2,4 Millionen Pflegefälle erwartet. Dabei werden jedoch nur 30 Prozent aller Pflegeplätze von den Pflegefällen und/oder deren Angehörigen bezahlt, für 70 Prozent aller Pflegeplätze trägt die jeweilige Kommune die Kosten von ca. 3.000 Euro monatlich. Nach Erhebungen des Bielefelder Demographen Herwig Birg hat die demographische Alterung ähnlich wie in der GKV auch in der GPV einnahmesenkende und ausgabenerhöhende Auswirkungen. Auch hier steigen die Pro-Kopf-Ausgaben für die Pflegeleistungen mit zunehmendem Alter steil an: 1996 waren in der Altersklasse der 35- bis 39jährigen vier von 1.000 Versicherten Empfänger von Leistungen der GPV, in der Altersgruppe der 65- bis 69jährigen waren es 24 und bei den 80jährigen 280 Leistungsempfänger. Demographische Simulationsrechnungen verschiedener Institute ergaben, daß der Beitragssatz zur GPV von derzeit 1,7 Prozent bis 2040 auf rund 3 bis 6 Prozent erhöht werden müßte. Wahrscheinlich ist selbst ein Satz von 6 Prozent nicht ausreichend. Denn nach Berechnungen der für den Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft durchgeführten mittleren Projektionsvariante verdreifacht sich die Gruppe der 80jährigen und älteren Menschen, zu der die meisten Pflegebedürftigen gehören, von 1998 bis 2050 infolge der nachrückenden geburtenstarken Jahrgänge der sechziger Jahre von 3,0 Millionen auf 9,9 Millionen. Die Zahl der 80jährigen und älteren Männer ist heute infolge der kriegsbedingten Sterbefälle wesentlich niedriger als die der Frauen (0,8 Millionen Männer bei 2,2 Millionen Frauen), doch normalisiert sie sich in der Zukunft und wächst bis 2050 auf 3,9 Millionen – die der Frauen auf 6,0 Millionen. Der demographische Altenpflegequotient (Zahl der über 80jährigen auf 100 Menschen im Alter von 40 bis 60) vervierfacht sich dabei von 1998 bis 2050 von 12,6 auf 55,0. Auf jede zweite Person in der Altersgruppe von 40 bis unter 60 entfällt demnach eine Person in der für die Zahl der Pflegefälle wichtigen Altersgruppe der 80jährigen und älteren. Der Zuwachs ist bei den Männern wesentlich stärker als bei den Frauen. Der Altenpflegequotient, der die Zahl der über 90jährigen auf 100 Personen in der Altersgruppe von 50 bis unter 70 bezieht, betrug 1998 noch 2,3; er erhöht sich bis 2050 auf 10,8 und bis 2059 um das Sechsfache auf 14,1. In den vergangen Jahrzehnten hat sich die fernere Lebenserwartung der Menschen in einem hohen Alter von 70, 80, 90 und mehr Jahren wesentlich stärker erhöht als die fernere Lebenserwartung der jüngeren Menschen, bei denen die Sterblichkeit bereits früher stark gesunken war. Der Trend wird sich im 21. Jahrhundert fortsetzen. Dadurch wird die für die Pflegeleistungen wichtige Zahl der 100jährigen und älteren, die 1998 schätzungsweise 11.000 betrug, bis 2050 auf 70.000 bzw. bis 2067 auf ein Maximum von 115.000 anwachsen. Unter den lebenden Generationen gibt es keine einzige, die selbst beim optimistischsten Verlauf Nettozahlungen leistet. Die langfristige Finanzierung der Pflegeversicherung wird also allein durch zukünftige Generationen getragen. Der Altenpflegequotient mißt den rein demographisch bedingten Anstieg der Belastungen im Pflegebereich, der sich aus den Veränderungen der Altersstruktur ergibt. Weitere, ebenfalls demographisch bedingte Belastungen entstehen nach einem Gutachten Birgs für das Bundesverfassungsgericht aus dem Jahr 2000 daraus, daß der Anteil der Personen, die lebenslang kinderlos bleiben, dramatisch gestiegen ist: Die Tendenz zur lebenslangen Kinderlosigkeit ist nach wie vor steigend. Der weitaus überwiegende Teil der Pflegeleistungen wird von den Familienmitgliedern der Pflegebedürftigen und von deren Kindern erbracht. Die Zahl der Pflegebedürftigen, die kinderlos bleiben und außerfamiliäre Pflegeleistungen in Anspruch nehmen müssen, wird sich besonders stark erhöhen. Dies führt zu dem Problem, daß das Prinzip der Beitragsgerechtigkeit verletzt wird, wenn die Zahl der Nachkommen und deren Pflegeleistungen bei der Tarifgestaltung nicht berücksichtigt wird. Was ist zu tun, um den unvermeidbaren Systemzusammenbruch der GPV zu vermeiden? Wir müssen dazu kommen, die erzieherische Leistung der nichtberufstätigen Mütter, die für ihre Kinder dasein wollen, auch finanziell anzuerkennen. Dies können 600 Euro pro Kind und Monat über eine Laufzeit von ca. 25 Jahren sein. Des weiteren ist es erforderlich, die Finanzierung vom Umlageverfahren auf ein Kapitaldeckungsverfahren umzustellen. Dabei baut der Versicherte im Laufe seines Lebens den Kapitalstock auf, aus dem er im Pflegefall seine Versorgung bezieht. So ist es denkbar, daß für alle nach 1961 Geborenen ein Zugangsstopp für die gesetzliche Sozialversicherung eingeführt wird. Diese Personengruppe hat die Pflicht, sich in einer kapitalgedeckten Renten-, Kranken-, Berufsunfähigkeits- und Pflegeversicherung abzusichern. Der Arbeitgeberanteil zur Sozialversicherung entfällt. Es werden aber Möglichkeiten geschaffen, in denen sich Arbeitgeber gemäß ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit an der sozialen Absicherung ihrer Mitarbeiter beteiligen können, zum Beispiel durch eine rein durch den Arbeitgeber finanzierte Pflegezusatzversicherung. Für jeden bisher in die Pflegeversicherung eingezahlten Euro werden die Leistungen weiterhin erbracht. Für die vor 1961 geborenen Pflegeversicherten werden die Beiträge nach dem allgemeinen Beitragssatz ihrer Pflegekasse ermittelt, eventuell sind Zuschüsse durch Steuereinnahmen des Bundes erforderlich. Darüber hinaus wird für diese Jahrgänge Entgeltumwandlung von Gehalt- und Lohnanteil in Versicherungsleistungen (Zusatzversicherung zur gesetzlichen Pflegeversicherung) eingeführt, wie es sie schon für Betriebsrenten gibt. Die kostenfreie Mitversicherung von Ehegatten und Kindern entfällt. Nichterwerbstätige, vor 1961 geborene Mütter und bisher Familienversicherte erhalten die Möglichkeit, sich in der GPV als freiwillig Versicherte gegen Eigenbeitrag zu versichern. In der kapitalgedeckten Pflegeversicherung liegt die einzige Möglichkeit, Pflegebedürftigkeit im Alter künftig finanzieren zu können. Auf dem Spiel steht dabei nicht nur das Schicksal der dann Betroffenen, sondern das unserer sozialen Sicherungssysteme überhaupt. Das Notwendige zu erkennen und entschlossen zu handeln, lautet deshalb das Gebot der Stunde. Michael Lennartz ist Versicherungsfachmann (BWV). Auf dem Forum der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt über das deutsche Krankenversicherungssystem (JF 43/06). Foto: Auf sich allein gestellt: Die Zahl der Pflegebedürftigen, die kinderlos bleiben und auf außerfamiliäre Hilfe angewiesen sind, wird sich stark erhöhen
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