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Mut zur Ungleichheit

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Cato, Palmer, Exklusiv

Non scholae, sed vitae discimus, sagte man, als Lateinkenntnisse noch bildungsbürgerliches Allgemeingut waren: Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir. Aber was ist das Leben? Karriere – oder die Fähigkeit zum selbständigen Denken und Handeln? Heißt „Leben“ Computerfertigkeit und Arbeitsmarktkompatibilität, oder besteht der Lebenszweck in der „Sozialkompetenz“? Gehen wir zur Schule, um Wissen anzuhäufen, um das Lernen zu lernen, oder um gesellschaftlich integriert zu werden? Sind Leistung, Wettbewerb, Elitenförderung und Allgemeinbildung nützlich oder schädlich – und für wen? Und lernt man nicht überhaupt besser zu Hause? Die deutschen Eltern sind verunsichert. Im Zeitalter der Industrialisierung konnte das deutsche Schulwesen noch als eines der besten der Welt gelten. Doch im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert ist es vom Vorbild zum Patienten geworden. Von „Pisa“ und „Rütli“ erschüttert, mit einer alarmierenden Analphabetenrate geschlagen, stimmen die Deutschen eifriger als andere mit ein, wenn ihrem Schulsystem Totalversagen attestiert wird. Die zunehmende Flucht aus dem staatlichen Schulsystem ist Ausdruck dieser Verunsicherung. Das stellt eine wesentliche Errungenschaft der Aufklärung in Frage: den vom Staat garantierten freien Zugang zur Schulbildung als Grundbedingung sowohl für die volkswirtschaftliche Leistungsfähigkeit als auch für den Aufstieg des einzelnen – nach seinen Talenten und nicht nach den Privilegien von Wohlstand und Herkunft. Die Reformation hatte die Grundlagen gelegt, Preußen die Maßstäbe gesetzt. Daraus entstand das dreigliedrige Schulsystem aus Hauptschule, Realschule und Gymnasium, das künftigen Arbeitern und Handwerkern, Angestellten und Kaufleuten, Akademikern und Gelehrten eine an ihren jeweiligen Fähigkeiten ausgerichtete Ausbildung sichern sollte – und lange auch konnte. Heute indes wächst die Skepsis, ob den Schülern noch das Wissen vermittelt werde, das sie „in einer modernen Gesellschaft wirklich brauchen“: 71 Prozent äußerten gegenüber Allensbach Zweifel, vor dreizehn Jahren waren es noch 65 Prozent; nur noch 13 gegenüber 22 Prozent 1994 sind davon überzeugt, daß das Richtige gelehrt werde. Freilich ist das auch ein Echo des berufsfixierten ökonomischen Utilitarismus der Bildungspolitiker. Wer formalen Leistungsdruck und die Vernachlässigung der handwerklich-künstlerischen Bildung meidet, sucht Alternativen bei Waldorf und Montessori; wem leistungsfeindliche Niveauabsenkung und Gleichmacherei ein Greuel sind, findet Zuflucht in privaten Gymnasien und Internaten mit elitärem Anstrich; dort vermuten viele Eltern auch weniger Sittenverfall, Alltagsgewalt, Anarchie und Disziplinlosigkeit, was – zusammen mit den vorgenannten Gründen – gerade christlich geprägten Privatschulen in den letzten Jahren neue Konjunktur beschert hat. Ebenso steigt die Zahl der Eltern, die ihr Elternrecht bei Bildung und Erziehung weder dem Staat noch anderen Einrichtungen überlassen, sondern per Heimunterricht selbst ausüben wollen. All diese Fluchtgründe dokumentieren, weshalb das Staatsschulsystem vielen als gescheitert gilt. Erste Ursache – es hat sich übernommen. Als Altlast der 68er-Ära ist das Schulwesen in Deutschland zunehmend unter die Fuchtel der Sozialingenieure geraten. Schule sollte als Mittel zur Sozialdemokratisierung und Egalisierung der Gesellschaft dienen; nicht nur das begabte „Arbeiterkind“, sondern potentiell jeder sollte Gymnasium und Universität besuchen können; finanzielle Förderung und Propaganda einerseits, Niveauabsenkungen andererseits waren die Instrumente der abiturfixierten Egalitaristen. Die Abwertung von Real- und Hauptschule als „Restschule“, die mißglückten Gesamtschulexperimente einiger Bundesländer, die heute den deutschen Durchschnitt herabziehen, und die Neigung zu überbordendem Zwangsengagement der Schüler à la „Aufstand der Anständigen“ sind ein Erbe der sozialistischen „Bildungsoffensive“ der siebziger Jahre. Ursache zwei: Das deutsche Schulsystem wird mißbraucht. Es soll als gesellschaftlicher Reparaturbetrieb für Werteverlust und gescheiterte Einwanderungspolitik herhalten. Das „Arbeiterkind“ der Siebziger wurde vom verwahrlosten Prekariersprößling und dem „Migrantenkind“ aus integrationsunwilligen Parallelgesellschaften als Hauptzielgruppe abgelöst. Mit verpflichtender Ganztagsbeschulung, möglichst schon im Kindergarten, und Zwangszusammenlegung von Schularten und -bezirken soll auch der letzte erreicht und integriert werden. Davor rettet sich unter den Leistungs- und Aufstiegsorientierten, wer kann. Die dritte Ursache schließlich – das im Grundsatz bewährte deutsche Schulsystem verliert zusehends seine Basis. Heutige Bildungsreformer haben es nicht mehr mit einer ethnisch homogenen, klassenübergreifend an bürgerlichen Bildungsidealen orientierten Nation zu tun. Welche Schulreform soll Halbwüchsige aus generationenaltem „Sozialhilfeadel“, denen als höchstes Lebensziel „Hartz IV“ einfällt, und libanesische Kinderbandenchefs zu erfolgshungrigen Schulgängern machen? Keine Bildungsanstalt der Welt kann ausgleichen, was das Gemeinwesen an Weichenstellungen, von der Werteorientierung bis zur Einwanderungspolitik, versäumt hat. Die Antwort auf die gesellschaftliche Fragmentierung kann daher nicht in einer verschärften staatlichen Erziehungsdiktatur bestehen. Einer freiheitlichen Umgestaltung steht freilich oft das unkalkulierbare Mißbrauchsrisiko im Wege. Die Sorge etwa, beim Heimunterricht könnten staatliche Bildungsstandards unterlaufen werden, läßt sich mit Hinweis auf staatliche Kontrollsysteme wie in Irland oder den USA ausräumen. Die Sorge, muslimische Parallelgesellschaften könnten sich mit diesem Instrument ganz ausklinken, schon weniger. Zu viele falsche Antworten sind schon gegeben worden. Die Patentrezepte der Bildungspolitiker – Gleichschaltung und Niveauabsenkung zur scheinbaren Förderung der einen auf Kosten der anderen – sind Irrwege. Die Lösung heißt nicht weniger, sondern mehr Differenzierung. Sinnvoller als die Zusammenlegung von Haupt- und Realschulen wäre beispielsweise die Einrichtung eigener Förderschulen für Kinder, die der Unterrichtssprache nicht mächtig sind. Ein gerechtes Schulsystem, das unterschiedliche Begabungen berücksichtigt und in dem staatliche und private Angebote einander sinnvoll ergänzen, verlangt vor allem eines: Mut zur Ungleichheit.

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