Zu Beginn dieses Jahres haben zwanzig namhafte Künstler für beachtliches Aufsehen gesorgt, weil sie in einem längeren Brief an den Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof Wolfgang Huber, „fehlenden Ernst“ in der evangelischen Kirche beklagt haben. Aktueller Anlaß für diesen Brief waren ihre Erfahrungen in verschiedenen Weihnachtsgottesdiensten, in denen sie „Musical statt Gottesdienst und Albernheiten statt der Weihnachtsbotschaft“ erlebt hätten. Die Künstler knüpfen an diese Feststellung einige grundsätzliche Fragen: „Sind die evangelische Kirche und ihre ordinierten Vertreter nicht willens oder nicht mehr in der Lage, diese Botschaft zu vermitteln? Wo schicken sie denn die Menschen hin, die die Weihnachtsbotschaft hören wollen, die sich Trost, Sinn und Inhalte von ihrer Kirche erhoffen? In das Theater des Westens? Sitzt unsere Kirche nicht dem grandiosen Irrtum auf, man müsse nur zeitgemäß sein, um die Gläubigen zu halten? Ist nicht das Gegenteil richtig?“ Dieser Brief wirft ein grelles Schlaglicht auf die in der Tat beklagenswerte innere Verfassung wie das äußere Erscheinungsbild der evangelischen Kirche nach vierzig Jahren Kulturrevolution, von der sie – gemäß dem marxistischen Grunddogma: „Die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik“ – besonders hart getroffen worden ist. Der Theologe Helmut Gollwitzer, einer der maßgebenden Wegbereiter der Studentenbewegung, konnte bereits 1976 mit Genugtuung feststellen, daß diese „auf keinen Teil der Bevölkerung so nachhaltig gewirkt hat wie auf die jüngere Generation der evangelischen Christen. Es besteht Hoffnung, daß auch eine von verschreckten Kirchenleuten begrüßte Wendung zu ‚Innerlichkeit und Religiosität‘ daran nichts ändern wird.“ Gollwitzers Hoffnung hat sich vollauf erfüllt. Die ehemals „jüngere Generation der Christen“ hat im Laufe ihres langen Marsches durch die Institutionen der evangelischen Kirche einen Großteil der maßgebenden Positionen besetzt und bestimmt von da aus das allgemeine Meinungsklima in der evangelischen Kirche. Es sind dies die Kirchenleitungen und die Kirchentage, die evangelischen Studentengemeinden und Akademien, die evangelischen Medien und Verlage sowie sonstige kirchliche Einrichtungen. Die Erwartung vieler Protestanten, daß der Zusammenbruch des realexistierenden Sozialismus Anlaß für eine kritische Überprüfung aller Äußerungen zum Thema Kirche und Sozialismus hätte sein können, hat sich nicht erfüllt. Aus bischöflichem Munde war zu hören, daß die evangelische Kirche in dieser Umbruchszeit „engagiert geschwiegen“ und darauf verzichtet hat, ein Zeichen des inneren Wandels und der Umkehr von dem bisherigen Weg zu setzen. Man denke nur an die beschämenden Auseinandersetzungen um das Glockenläuten der evangelischen Kirche zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 1990. Namhafte Theologen und kirchliche Laien, auch solche in verantwortlichen Positionen, haben nach dem „engagierten Schweigen“ relativ bald engagiert geredet, um vor „wohlfeiler Sozialismusschelte“ zu warnen. Zwar sei der Sozialismus als Herrschaftssystem zusammengebrochen, worüber man froh sein könne, aber nicht der Sozialismus als Idee, weil er ein „unaufgebbares Humanum“ bewahre. Ein Sammelband mit fünfzig Beiträgen zu diesem Mythos trägt denn auch den programmatischen Titel „Der Traum aber bleibt“ – trotz aller Erfahrungen, die wir in Geschichte und Gegenwart mit dem Sozialismus gemacht haben. Die Legende von der „Entartung des Sozialismus“ hat sich deshalb sehr schnell in der evangelischen Kirche verbreitet und bestimmt dort bis heute noch immer das Verhalten weiter Teile. Dabei wird übersehen, daß es in der evangelischen wie in jeder anderen christlichen Kirche nicht allein um die Verkündigung und Bewahrung des „rechten Glaubens“ geht, sondern immer auch um ihre Glaubwürdigkeit. Sie wird ganz erheblich in Zweifel gezogen, wenn zum Beispiel die von der evangelischen Kirche nach 1945 gesetzten Maßstäbe der Vergangenheitsbewältigung nur in bezug auf „Versagen“ und „Schuld“ der Väter in den Auseinandersetzungen mit dem realexistierenden Nationalsozialismus, nicht aber auf das offenkundige eigene Versagen in der Auseinandersetzung mit dem realexistierenden Sozialismus beachtet werden – selbstverständlich bei aller gebotenen Berücksichtigung der Besonderheiten beider Systeme. Man denke nur an die Reduzierung der christlichen Botschaft auf die ideologisch-politischen Erwartungen und Unterstützungen sowohl der 68er als auch der sogenannten kommunistischen Befreiungsbewegungen in Afrika und Südamerika, die sie zwar nicht von, sehr wohl aber aus der evangelischen Kirche durch die Theologie der Befreiung, des Aufstands und der Revolution erhalten haben. Es ist richtig, daß diese politischen Positionen aufgrund der veränderten politischen Gesamtsituation heute nicht mehr vertreten werden. Richtig ist aber leider auch, daß die damals vertretenen Einstellungen nicht als Irrtum bekannt werden – von wenigen Ausnahmen abgesehen, die dankbar zu registrieren sind. Sie reichen aber nicht aus, um den Prozeß der Erosion unserer gemeinsamen Bekenntnisse und Traditionen aufzuhalten. Er schreitet deshalb ungehindert voran. Am Reformationstag vorigen Jahres etwa haben fünfzig Theologen eine von ihnen verfaßte „Bibel in gerechter Sprache“ präsentiert, in der zentrale Aussagen des christlichen Glaubens in der Konsequenz der feministischen Ideologie eindeutig verfälscht wurden. Bischof Huber hat sich von dieser „Bibel“ distanziert – ein bemerkenswerter Vorgang. Wenige Wochen später allerdings hat die Kirchenleitung der Rheinischen Kirche eine Handreichung für einen „Gottesdienst in gerechter Sprache“ veröffentlicht und den 800 Gemeinden in der zweitgrößten Landeskirche zugestellt – und damit einen weiteren Beitrag zum „Zerfleddern der bestehenden Gottesdienstformen“ geleistet, den die Künstler zu Recht beklagen. Ob und wann es der evangelischen Kirche gelingen wird, sich aus dem Bann der Alt-68er zu befreien, steht dahin. Doch nicht jeder ist bereit, die weitere Entwicklung abzuwarten. Bekennende Gemeinschaften, evangelikale Gruppen und geistliche Kommunitäten haben sich längst zu ernstzunehmenden Sammlungsbewegungen in der evangelischen Kirche entwickelt. Von hier aus können, ja müssen die geistlichen Impulse ausgehen, an deren Ende eine erneuerte evangelische Kirche steht.