Am 4. Oktober 1986 nimmt die bundesdeutsche Öffentlichkeit erstmals vom Schicksal einer jungen Frau Notiz, die fortan deutsch-deutsche Geschichte schreiben wird. Es geht um Jutta Gallus, die seit gut zweieinhalb Jahren in der Bundesrepublik lebt und von nun an eine öffentliche Kampagne gegen das SED-Regime führt, weil sie sich nicht anders zu helfen weiß. Gallus ist sich der Gefahr ihrer Aktion durchaus bewußt. Hatten ihr doch die Staatsorgane der DDR vor ihrem Freikauf mehrmals vor Augen geführt, was passieren würde, sollte sie den Versuch unternehmen, die bundesdeutsche Öffentlichkeit über ihr Schicksal zu unterrichten. Doch auch Politiker im Westen bekundeten kaum Interesse daran, auf den Fall Jutta Gallus – unter Verweis auf die gerade stabilen innerdeutschen Beziehungen – aufmerksam zu machen, zu vermitteln oder gar die DDR wegen Menschenrechtsverletzung anzuklagen. Jutta Gallus wechselt ab sofort ihre Strategie: Sie tritt jetzt nicht mehr als Bittstellerin auf, sondern will nun die Ausreise ihrer beiden Töchter mit publikumswirksamen Aktionen erzwingen, so entsprechenden Druck auf das DDR-Regime und die Weltöffentlichkeit ausüben. Seit jenem 4. Oktober 1986 wird Gallus Tag für Tag, bei Wind und Wetter am Grenzübergang Checkpoint Charlie stehen, mit einem Schild vor der Brust, auf dem sie auf die untragbare Situation in ihrem Fall hinweist: Während sie sich im Westen befindet, werden ihre Kinder gegen deren ausdrücklichen Willen im Osten festgehalten. So wird sie zum Symbol des persönlichen Widerstands gegen ein unmenschliches Regime sowie der politischen Perversion der deutschen Teilung. Sie wird die „Frau vom Checkpoint Charlie“. Nun hat sich das Fernsehen der spektakulären Geschichte dieser mutigen wie ungewöhnlichen Frau angenommen. Der Zweiteiler „Die Frau vom Checkpoint Charlie“ (Termine siehe Stichwortkasten) ist ein Film über das Zusammengehörigkeitsgefühl. Über das Zusammengehörigkeitsgefühl einer Familie über die deutsch-deutsche Grenze, ja über den politischen Status quo zweier verfeindeter Machtblöcke hinweg. Zugleich ist es aber auch ein Film über die Trennung. Über die politisch erzwungene Trennung sich bedingungslos liebender Menschen in einem geteilten Land. Zur Handlung: Die alleinerziehende Mutter Sara Bender (Veronica Ferres) lebt mit ihren beiden minderjährigen Töchtern Silvia und Sabine (Maria Ehrich und Elisa Schlott) in Erfurt. Schon seit geraumer Zeit äußert sie sich kritisch über das DDR-System. „Ich sage nur die Wahrheit“, befindet sie, „ich erlaube mir nur eine eigene Meinung“. Diese Sätze sind von Bedeutung, stehen sie doch für Saras unbeugsamen wie unbestechlichen Charakter und ziehen sich leitmotivisch durch die gesamte Filmhandlung. Peter (Peter Kremer), ihr Freund, betrachtet Saras Haltung mit Skepsis, spielt den Ahnungslosen, ist aber auch nicht frei von echter Anteilnahme. Als das DDR-Regime Sara untersagt, zur Beerdigung ihres Vaters in den Westen zu fahren, kommt es zum endgültigen Bruch. Sara stellt einen Ausreiseantrag. Als dieser von den Behörden abgelehnt wird, beschließt sie, gemeinsam mit Peter und ihren beiden Kindern zu fliehen. Doch Peter weigert sich – erst später erfährt man warum – und der Versuch, es auf eigene Faust zu versuchen, scheitert. Muß er auch, denn den Fluchtplan hat Peter, den die Staatssicherheit auf Sara angesetzt hat, längst verraten. Nach dem Rücktransport aus Rumänien in die DDR werden Saras Töchter in ein Kinderheim gebracht, landen später bei einer Pflegefamilie. Sara selbst kommt wegen „Republikflucht“ für dreieinhalb Jahre ins Gefängnis. Nur in knappen Sequenzen schildert der Film – Sara sitzt im berüchtigten Frauenzuchthaus Hoheneck ein – die bedrückende Haftzeit. Dabei verzichtet er ganz auf eine Psychologisierung des Geschehens. Statt dessen tritt Sara unvermittelt mit einem Kurzhaarschnitt auf, der mehr über das Erlebte verrät, als es eine Knast-Handlung je könnte. So steht Sara also da, während sie nach heftigem Ringen mit sich selbst – sie soll ohne ihre Kinder ausreisen – die Papiere für den Freikauf in die Bundesrepublik unterschreibt. Sara kommt in den Westen, doch die vage Zusicherung der DDR-Behörden, ihre Kinder würden ihr alsbald folgen, erfüllt sich nicht. Erst zögernd, dann immer bestimmter, beginnt nun Saras einsamer Kampf gegen die Willkür der politischen Instanzen. Zuspruch erfährt sie zunächst nur wenig. Allein Richard Panter (Filip Peeters), ein Journalist, dem sie ihr Schicksal nach einigem Zögern anvertraut, und die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) bieten ihre Unterstützung an. Sara geht aufs Ganze, sie wird nun zur „Frau am Checkpoint Charlie“, die auf ihrem Plakat ihr Menschenrecht einfordert: „Gebt mir meine Kinder zurück“. Erst jetzt nutzt sie die Medien gezielt für ihre Interessen, kettet sich etwa bei der KSZE-Konferenz in Helsinki an einen Fahnenmast. Läßt sich auch nicht von der Bitte des Ministeriums für innerdeutsche Angelegenheiten, die Öffentlichkeit mit ihrem Fall nicht weiter zu behelligen, nicht aus dem Konzept bringen. Wie kaum eine andere Produktion dieser Tage schildert „Die Frau vom Checkpoint Charlie“ die menschliche Dimension der deutsch-deutschen Teilung und ihrer nachgerade perversen Konsequenzen. Dabei liegt das Hauptaugenmerk der Handlung stets auf der Hauptfigur Sara. Zunächst ist sie, die „kapitalistische Zeitschriften liest und westliche Musik hört“, Zielscheibe des DDR-Systems. Später wird sie im Westen zur lange Zeit machtlosen, dann aber immer entschiedeneren Kämpferin gegen die verkrusteten politischen Strukturen diesseits und jenseits der Mauer. Drehbuchautorin Annette Hess tat gut daran, die wahre Geschichte der zweifachen Mutter Jutta Gallus nicht akribisch genau nachzuerzählen. „Man muß sich von den realen Ereignissen lösen, verdichten, verdeutlichen. Fiktion, wie der Name schon sagt, bildet nie die Wirklichkeit ab. Doch sollte man versuchen, eine mögliche Wahrheit zu erzählen.“ Bei diesem Versuch treibt es der Film zuweilen sehr weit und setzt sich damit der unnötigen Gefahr aus, stellenweise unglaubwürdig zu erscheinen. So hätte man beispielsweise auf den effektvoll in Szene gesetzten Mordanschlag der Stasi, den diese in Helsinki auf Sara unternimmt, gut und gern verzichten können. Denn die Atmosphäre von Mißtrauen und Gefahr, von Hoffnung und Ängsten, den die spannende wie dramatische Geschichte erzeugt, ist – unterstützt von einem sehr guten Schauspielerensemble – für den Zuschauer ohnehin präsent genug, zuweilen sogar schlichtweg ergreifend. Doch auch wenn der Zweiteiler an einigen Stellen überzieht, zugunsten der Dramaturgie mit kaum glaubhaften Zufällen agiert, letztlich arbeitet er die Charaktere der Hauptfiguren klar heraus, legt Wert auf winzige, dennoch nicht unwichtige Details und verweist auf allerlei Doppelbödiges im DDR-System. Dies läßt manch Eindimensionales und Klischeehaftes schnell vergessen, zumal der emotionale Kern der Geschichte niemals aus dem Blickfeld gerät. Etwa der Liebesverrat von Peter an Sara oder Saras Mißtrauen gegenüber Richard. Seine stärksten Momente hat der Film freilich dort, wo er die Bemühungen der DDR um den Einfluß auf Saras Kinder in Szene setzt. Dort wird das ganze menschenverachtende System offenkundig, das ein Gespinst aus Lügen und Verleumdungen aufbaut, um Kinder und Mutter emotional voneinander zu entfremden. An Eindringlichkeit sind diese Szenen kaum zu überbieten, etwa jene des Filmanfangs, in der Sara in der DDR-Botschaft in Bukarest verhört wird. Nachdem Sara sich als Bundesbürgerin ausgegeben hat, sie kann sogar einen dazugehörigen Paß vorweisen, zieht der Beamte die Drohregister der allgegenwärtigen Staatsmacht. Er bittet die Kinder herein und verhört sie im gespielt vertraulichen Ton, der den dahinter verborgenen eiskalten Zynismus nur mühsam verbirgt: „Na, wollt ihr was trinken? – Also gut, eure Mutti lügt uns an. Das macht man doch nicht, oder? – Jetzt wollen wir doch mal sehen, was die Wahrheit ist! – Ihr wollt doch sicher nicht, daß eure Mutter ins Gefängnis kommt, oder?“ Und als Sara nun ihre wahre Identität preisgibt, folgt der pädagogische Zeigefinger: „Da könnt ihr mal sehen, Lügen haben kurze Beine.“ Nicht nur Veronica Ferres als Sara erweist sich in Szenen wie dieser als ausgezeichnete Filmbesetzung. Regie, Kamera und Buch – all das ist einzig und allein auf die Hauptdarstellerin ausgerichtet, die die Bühne des Films in ihrer ganzen Breite nutzt. Nach zurückhaltendem Beginn, nach überzeugend reduziertem Spiel legt Ferres im Verlauf der Zeit die gesamte Palette möglicher Emotionen in ihre Figur und läuft dennoch niemals Gefahr, über der Geschichte selber zu stehen. Miguel Alexandre, einer der talentiertesten deutschen Regisseure („Grüße aus Kaschmir“, „Störtebeker“), hat einen wichtigen Film gedreht. Einen Film, über den man immer wieder sprechen wird. Denn letztlich gelingt es ihm, nachhaltige Erinnerungen an eine Zeit hervorzurufen, die allzuoft von der humoristischen Seite („Good bye, Lenin!“, „Sonnenallee“) behandelt wurde. „Die Frau vom Checkpoint Charlie“ rückt dahingehend etwas zurecht: Der Film stellt den Menschen in den Mittelpunkt und führt, ohne überambitioniert zu sein, am Beispiel einer mutigen Frau einen Beispielfall deutscher Zeitgeschichte vor. Im Vorfeld des Filmprojekts ließen es sich die Drehbuchautorin sowie Hauptdarstellerin Veronica Ferres nicht nehmen, persönlich mit Jutta Gallus zu sprechen. Sechs Jahre lang war diese von ihren Kindern getrennt, ehe sie ihre beiden Töchter im August 1988 endlich wieder in die Arme schließen konnte. Die Dokumentation von Peter Adler erinnert an den aufsehenerregenden Fall und fördert zugleich den Unterschied zwischen Filmfiktion und wahrer Begebenheit zutage. Stichwort: DDR, Mauer und Flucht im TV „Die Frau vom Checkpoint Charlie“ (Teil 1 und 2), Arte, 28. September, 20.40 Uhr; die Dokumentation 23.40 Uhr. In der ARD am 30.9., 20.15 Uhr (Teil 1) und am 1.10. 20.15 (Teil 2), anschließend die Dokumentation (21.45 Uhr). Parallel dazu sendet RTL bereits am 23. September das „Event-Movie“ „Prager Botschaft“ (20.15 Uhr) mit der anschließenden Dokumentation „Gefährliche Flucht in die Freiheit“ (22.20 Uhr). „Heimweh nach Drüben“ heißt eine Flucht-„Komödie“ am 3. Oktober in der ARD (20.15 Uhr). Am 25.9. dokumentiert zudem das MDR-Geschichtsmagazin „Barbarossa“ die Flucht von 53 Bewohnern eines thüringischen Dorfes in den Westen (21.15 Uhr). Fotos: Festnahme bei der KSZE in Helsinki: Die Presse mobilisieren; Brutale Stasi: Sara (Veronica Ferres) spürt ihre Ohnmacht; Sara im Frauenknast Hoheneck: Den Menschen brechen; Allein an der Mauer: Sara läßt sich nicht einschüchtern; Einsamer Kampf: Jutta Gallus am Checkpoint Charlie