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Die verpaßte Wende

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Das Interesse an und die Unterstützung für Konservatismus ist deutlicher als bei anderen Weltanschauungen von der Gesamtlage abhängig. Jedenfalls geht die politische Orientierung um so stärker nach „rechts“, je klarer Krise und Desorientierung die Situation bestimmen. Damit ist selbstverständlich nicht alles über konservative Wirkungschancen gesagt. Die hängen immer auch von der Qualität des Personals und der Programme und wiederum von der Entwicklung der Lage ab. Als Lehrbeispiel für ein Scheitern trotz günstiger Umstände kann man das Ausbleiben der „geistig-moralischen Wende“ nach der Regierungsübernahme Helmut Kohls 1982/83 betrachten. Dabei spielte eine wichtige Rolle, daß Konservative den Machtwechsel selbst nicht als Anfang, sondern als Vollendung eines länger angebahnten Veränderungsprozesses zu ihren Gunsten sahen. Der Ursprung dieses Veränderungsprozesses lag in der Gegenbewegung, die nach den linken Vorstößen von 1967/68 einsetzte. Schon am 7. Oktober 1970 hatte die Frankfurter Allgemeine Zeitung einen Leitartikel Dolf Sternbergers mit dem Titel „Darf man heute konservativ sein?“ veröffentlicht. Sternberger beantwortete die Frage bejahend, was insofern überraschte, als er immer im Ruf eines Liberalen gestanden hatte. Aber der Linksruck in der westdeutschen Gesellschaft machte aus seiner Sicht die Stärkung des Widerlagers erforderlich. Sternbergers Konservatismus blieb aber vorsichtig und sollte in erster Linie dem grassierenden Utopismus und Radikalismus eine Schranke setzen. Eine solche „freiheitskonservative“ Stellungnahme durfte im bürgerlichen Lager auf große Zustimmung rechnen, und selbst unter früheren Sympathisanten der Linken gab es einige – Hermann Lübbe, Kurt Sontheimer, Ernst Topitsch, Karl Steinbuch und Gerhard Szczesny -, die sich neu orientierten. Das war Ausdruck der Ermüdung nach hysterischen Debatten, Ausschreitungen der APO und dem ungezogenen Gehabe der Progressiven, vor allem aber war es Ausdruck des Wunsches nach Überschaubarkeit, Ruhe und Ordnung. Als Die Zeit dreieinhalb Jahre später, am 29. März 1974, auf der ersten Seite die Schlagzeile „Man trägt wieder konservativ“ brachte, hatte die Situation einen wesentlich dramatischeren Charakter angenommen: Der Terrorismus war zur dauernden Bedrohung geworden, der „Ölschock“ führte den westlichen Industriestaaten ihre wirtschaftliche Abhängigkeit vor Augen, die Niederlage in Vietnam zeigte ihre militärische Schwäche, gleichzeitig sah sich die Reformeuphorie gründlich enttäuscht und im Westen wurden Anklagen prominenter sowjetischer Dissidenten gegen den Kommunismus laut, die auch einen Teil der Linken irritierten. Das optimistische Meinungsklima, das sich nach dem „roten Mai“ breitgemacht hatte, schwand, und eine „Tendenzwende“ schien in der Logik der Ereignisse zu liegen. Der Begriff verdankte seine Bekanntheit einem Kongreß, der im November 1974 auf Initiative des Verlegers Ernst Klett von der Bayerischen Akademie der Schönen Künste durchgeführt wurde. Allerdings war der Umgang mit dem neuen Schlagwort ein vorsichtig tastender, was schon das Fragezeichen im Titel der Veranstaltung – „Tendenzwende? Zur geistigen Situation der Bundesrepublik“ – erkennen ließ. Die „Wende“ war nicht Konsequenz einer von Konservativen getragenen kulturellen Hegemonie oder dramatischer politischer Veränderungen, sondern Folge des Machtverfalls der sozialliberalen Koalition und des Austritts der FDP aus der Regierung. Die Rede von einer „Tendenzwende“ war zu diesem Zeitpunkt indes schon geläufig. Wahrscheinlich wurde der Begriff durch den Publizisten Gerd-Klaus Kaltenbrunner geprägt, der damals als führender Kopf der „Neo-Konservativen“ galt. Kaltenbrunner hatte im September des Jahres eine erste Nummer seiner Taschenbuchreihe Herderbücherei Initiative herausgebracht, die mehrere Beiträge zum Thema „Plädoyer für die Vernunft – Signale einer Tendenzwende“ enthielt. Von Konservatismus war hier nur beiläufig die Rede, denn Kaltenbrunner ging es um die Sammlung aller, die sich in der Bekämpfung des „neuen Irrationalismus“, wie ihn die Achtundsechziger-Bewegung verkörperte, einig waren. Sehr viel deutlicher hatte er sein Programm in einem Aufsatz formuliert, der zuvor in der Deutschen Zeitung erschienen war. Die „Tendenzwende“ betrachtete er da als wünschenswerte Folge der „konservativen Welle“, also als längerfristigen Prozeß, der eine „neue Rechte“ hervorbringen werde, die der „neuen Linken“ auf deren eigenem Feld entgegentreten könne: der Kultur. Bemerkenswerterweise sah Kaltenbrunner in der Abwendung der Wähler von der SPD und der Hinwendung zu den Unionsparteien keinen Grund zum Optimismus. „Die CDU“, hieß es in dem erwähnten Aufsatz, „ist keine konservative, sondern eine sozialliberale Partei“, und weiter: „… diese Partei ist nur Nutznießerin der sich abzeichnenden Tendenzwende. Sie hat diesen Umschwung weder herbeigeführt noch verdient. Sie hat ihn nicht einmal begriffen.“ Solcher Distanziertheit gegenüber der Union entsprachen Vorsicht und Mißtrauen auf deren Seite gegenüber dem „Neo-Konservatismus“. Der damalige Generalsekretär der Partei, Kurt Biedenkopf, hatte in mehreren Stellungnahmen die Charakterisierung der CDU als „konservativ“ ausdrücklich zurückgewiesen, und die „Modernisierer“ in den Führungskadern machten längst ihren Einfluß geltend, um einen „backlash“, wie Kaltenbrunner ihn erhoffte, zu verhindern. Allerdings gab es im bürgerlichen Milieu viele Anhänger einer „Tendenzwende“, auf die die Partei Rücksicht nehmen mußte. Für sie war die „Tendenzwende“ der siebziger Jahre das, was die Linke am „Genossen Trend“ der sechziger Jahre gehabt hatte. Nach dem Mauerbau und der abklingenden Empörung darüber schien es, als könnte nichts mehr den Aufstieg der SPD verhindern. Ihr Stimmenanteil wuchs von Wahl zu Wahl, was ihre politische Führung tat, entsprach dem Zeitgeist, fand die Unterstützung der Medien und einflußreicher Institutionen. Die Linke sah sich im Einklang mit der gesellschaftlichen Entwicklung, die aus bestimmten sozialen Strukturen zwangsläufig resultierte. Die Annahme solcher Zwangsläufigkeit entsprach technokratischem Verständnis und übte auf die Interpretation politischer Vorgänge erheblichen Einfluß aus: Jetzt schien sie eben den Sieg der konservativen Sache zu verbürgen, und als die Union 1976 auch die Landtagswahl in Niedersachsen gewann, deutete das der Spiegel ganz selbstverständlich als weiteres Anzeichen der „Tendenzwende“. Tatsächlich dauerte es noch sechs Jahre, bis die „Wende“ vollzogen werden konnte, und das auch nicht als Konsequenz einer von Konservativen getragenen kulturellen Hegemonie oder dramatischer politischer Veränderungen, sondern infolge des Machtverfalls der sozialliberalen Koalition und des Austritts der FDP aus der Regierung, woraufhin die Liberalen – ohne Neuwahl – mit der Union ein neues Kabinett bildeten. Wenn in dem Zusammenhang von einer „Wende“ gesprochen wurde, so zuerst in einem ganz prosaischen Sinn: Im Herbst 1981 hatte die alte Regierung ihren Haushaltsentwurf für das folgende Jahr nicht zur Deckung bringen können. Nachdem dieses Problem durch einige gewagte Manipulationen behoben worden war, äußerte die Opposition, man habe versäumt, in bezug auf die Wirtschafts- und Sozialpolitik die nötige „Wende“ zu vollziehen. Die „Wende“-Rhetorik der ersten Zeit des Kabinetts Kohl-Genscher hat zuerst die Linke in Bann geschlagen. Viele Kommentatoren fanden nicht nur den „Verrat“ der Liberalen empörend, sie fürchteten tatsächlich den aktiven Versuch der Koalitionspartner, dort wieder anzuknüpfen, wo sie 1966 aufgehört hatten. Davon konnte aber schon deshalb keine Rede sein, weil die FDP jedes Interesse haben mußte, eine „Gegenreformation“ zu verhindern. Wenn Genscher etwas betonte, dann die durch seine Partei verbürgte „Kontinuität“. Kohl hat darauf Rücksicht genommen, wollte aber auch jenen Teil seiner Anhänger zufriedenstellen, der eine „echte Wende“ verlangte. Schon in einem Fernsehinterview nach dem Rücktritt der Regierung Schmidt hatte er ausdrücklich erklärt, daß man sich einer „geistig-moralischen Herausforderung“ gegenübersehe, und in der Folgezeit bis zur Regierungserklärung vom 6. März 1983 war regelmäßig die Rede von der „geistig-moralischen Erneuerung“, die notwendig sei, um dieser Herausforderung zu begegnen. Danach verschwand die Formel rasch aus Kohls Repertoire, und schon Ende 1984 kam Nikolaus Lobkowicz, prominenter Sprecher der Katholisch-Konservativen in der Union, auf dem CSU-Parteitag zu der Feststellung: „Nach Brandts Regierungserklärung beim Antritt der sozial-liberalen Koalition herrschte im ganzen Lande eine Aufbruchsstimmung; nichts dergleichen erfolgte nach dem endgültigen Amtsantritt der Regierung Kohl, obwohl viele es erhofft hatten.“ Wie viele das tatsächlich waren, ist schwer einzuschätzen. Fest steht nur, daß die Konservativen in der Union ausgesprochen enttäuscht waren und auf dem Feld symbolischer Politik weiter enttäuscht wurden: angefangen beim Verhalten Kohls in der Debatte um die „Feier“ des 8. Mai 1985 über dessen Indifferenz im Zusammenhang mit dem „Historikerstreit“ bis zu seinem Verhalten während des „Staatsbesuchs“ von Honecker 1987. Jede Erwartung einer konservativen Kurskorrektur der Union ist vergeblich, sie würde sich nur einer Bewegung anschließen, die sie gleichzeitig fürchtet und zu nutzen hofft. Diese Bewegung kann nicht in der Union entstehen, sondern muß von außen kommen. Was Kohl zu seiner Kursänderung veranlaßt hat, ist bis heute umstritten. Es gibt die, die meinen, daß er „selber nicht kapiert“ (Jürgen Busche) habe, wie gering die Unterstützung für eine radikale Kehre gewesen wäre, dann die, die der Partei die Schuld geben, weil man die Union weltanschaulich nur noch auf Kirchentagschristentum mit „sentimentalem Tremolo“ (Hans-Peter Schwarz) habe ausrichten können, und schließlich die, die im „Hans Huckebein aus Oggersheim“ (Caspar von Schrenck-Notzing) nie etwas anderes als einen Taktierer ohne weltanschauliche Grundlagen sahen. Fest steht jedenfalls, daß die „geistig-moralische Wende“ bald als „GeMoWe“ zum Gegenstand von Kabarett und Satire wurde, die Linke ihre anfängliche Furcht überwand und spöttisch nach Konsequenzen fragte, die Konservativen sich angesichts der Etablierung der „Grünen“ im Bundestag mit einem weiteren Erfolg ihres Hauptgegners konfrontiert sahen und eine breitere Öffentlichkeit dem allen mit Desinteresse gegenüberstand. Das macht die scharfe Kritik aus dem konservativen Lager verständlich, und kaum jemand hat Kohls Verhalten so gegeißelt wie Günter Rohrmoser. In mehreren Aufsätzen griff er das Fehlen „geistig-moralischer Inspiration“ an, und seine Analyse gipfelte 1985 – nach der verlorenen Landtagswahl in Nord­rhein-Westfalen – in der Feststellung eines „Debakels“: „Die CDU“, so Rohrmoser, stehe „vor der Notwendigkeit ihrer inneren geistigen, konzeptionellen und politischen Erneuerung, wenn nicht aus einer Politik der Wende, also einem neuen Anfang, eine Nachgeburt der sozial-liberalen Koalition werden soll.“ Die Feststellungen Rohrmosers hatten ihre besondere Pointe darin, daß er während der Diskussion um die „Tendenzwende“ gegen Kaltenbrunner argumentiert und anstelle einer „neuen Rechten“ mit konsequent metapolitischem Ansatz für eine „neue Mitte“ von eher pragmatischer Ausrichtung votiert hatte, die den Anschluß an die CDU halten sollte. Überschaut man die Entwicklung danach, wird man nicht umhin kommen, Kaltenbrunner beizupflichten, der schon zehn Jahre vor Ankündigung einer „geistig-moralischen Wende“ überzeugt war, die Union repräsentierte bestenfalls „eine konfuse, bloß taktierende ‚Mitte'“. In dieser Perspektive erscheint das Ausbleiben der „geistig-moralischen Wende“ nur konsequent. Die Tatsache, daß es nicht gelungen war, eine konservative Kulturrevolution vor der Übernahme der Regierungsverantwortung durchzuführen, mußte letztlich zu dem jämmerlichen Gesamtergebnis führen, das die „Ära Kohl“ innen- und gesellschaftspolitisch kennzeichnete. Man kann sogar noch einen Schritt weitergehen: Eine grundsätzliche Änderung der politischen Konstellation ist nie ohne Verankerung der praktischen Maßnahmen im Grundsätzlichen zu haben. Insofern ist der Gesamtvorgang als ernste Warnung zu nehmen: Jede Erwartung einer konservativen Kurskorrektur der Union ist vergeblich, denn sie würde sich nur einer Bewegung anschließen, die sie gleichzeitig fürchtet und zu nutzen hofft. Eine solche Bewegung kann nicht innerhalb der Partei entstehen, sie bedürfte eines archimedischen Punktes außerhalb und dessen, was die unabdingbare Voraussetzung jedes langfristigen politischen Erfolges ist: Beharrlichkeit und Angriffsgeist. Dr. Karlheinz Weißmann , Jahrgang 1959, ist Historiker und Studienrat an einem Gymnasium in Göttingen. In der JF schrieb er zuletzt eine fünfteilige Serie zum Thema Konservatismus. Eine erweiterte Fassung davon erscheint demnächst als Buch in der Edition Antaios unter dem Titel „Das konservative Minimum“. Foto: Helmut Schmidt beglückwünscht Helmut Kohl zu dessen Wahl zum Bundeskanzler (1. Oktober 1982): Die „Wende“-Rhetorik der ersten Zeit des Kabinetts Kohl hat zuerst die Linke in den Bann geschlagen

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