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Bilden statt Gleichmachen

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In JF 25/07 plädierte Wolfgang Hinrichs, Pädagoge an der Universität Siegen, für einen ganzheitlichen, die verschiedenen Begabungen eines Schülers fördernden Schulunterricht. Damit wandte er sich zugleich gegen aktuelle Tendenzen zur Stärkung der Gesamt- oder Gemeinschaftsschule, die auf die unterschiedlichen Begabungen der Schüler mit einem einheitlichen schulischen Angebot reagiert. In dieser Ausgabe nun spricht sich der Lindauer Oberstudiendirektor Hans Binder für das klassische dreigliedrige Schulsystem aus, das in besonderer Weise eine den unterschiedlichen Begabungen entsprechende Ausbildung gewährleiste. (JF) Noch bis vor kurzem galt das deutsche Schulsystem als besonders erfolgreich und vorbild-lich, und Bildungsexperten wie Lehrer aus aller Herren Länder ließen es sich vor Ort vorführen und lernten daraus. Immerhin war das gegliederte Schulsystem in Deutschland, zu dem auch ein besonderes und ebenfalls immer wieder an veränderte Bedingungen und Bedürfnisse angepaßtes Berufsschulwesen gehört, die Grundlage und Voraussetzung für die Erfolge Deutschlands: auch nach 1945 für den (Wieder-)Aufbau des Landes, seine außerordentliche Leistungsfähigkeit in der technischen, industriellen und gesamten wirtschaftlichen Entwicklung, für die Dichte an Patenten, für Wissenschaft und Forschung und gleichermaßen für das Kulturleben und eine sprichwörtlich gut organisierte und leistungsstarke Verwaltung und Versorgung auf allen Gebieten. Das gegliederte deutsche Schulsystem mit Haupt- und Realschule und Gymnasium ist am ehesten geeignet, Schüler unterschiedlicher Eignungen angemessen und bestmöglich zu för-dern. Allerdings muß seine Durchlässigkeit Schullaufbahnentscheidungen revidierbar machen, wenn – was nur in einer Minderheit von Fällen vorkommt – eine überraschende Entwicklung des Schülers Anlaß dazu gibt. Eltern wollen in der Regel die bestmögliche schulische Förderung ihres Kindes und streiten sogar dafür. Dort wo ein gegliedertes Schulsystem besteht, streben die Erziehungsberechtigten nach Möglichkeit das Gymnasium an. Die Übertrittsquote ist im Laufe der letzten 50 Jahre immer mehr gestiegen, wenn sie auch – bei teils großen Unterschieden von Bundesland zu Bundesland, von Region zu Region und im Vergleich von Stadt- zur Landbevölkerung – noch längst nicht die Spitzenwerte mancher europäischer Länder wie Frankreich erreicht. Auch die Zehnjährigen selbst streben nach der weiterführenden, sie stärker fordernden Schule, wollen sich beweisen und sind – wie Erhebungen zeigen – nach dem Schulwechsel in jeder der drei Schularten motivierter und zufriedener als zuletzt in der gemeinsamen Grundschule. In den Klassen der Hauptschulen entwickeln sich erfreulicherweise neue Spitzen, einige ihrer Schüler zeigen einen Auftrieb, der sich zuvor in der gemeinsamen Grundschule, vor der verteufelten Auslese, noch nicht ankündigte. Begleitet werden die Diskussionen um das Schulwesen von Hinweisen auf die Ergebnisse der fortlaufenden internationalen Studien an deutschen Schulen wie TIMSS (Trends in Mathematics and Science Study) und PISA (Programme for International Student Assessment). Die Durchführung dieser Studien wurde hierzulande von den beteiligten Lehrern, Schülern und Eltern jedoch nicht ernst genommen. Das geht nicht zuletzt aus der Schilderung von Beteiligten hervor. Entsprechend gering waren Interesse und Anstrengungen. Die Untersucher bezeichnen die „Compliance“, also die Bereitschaft zu aktiver Mitarbeit der Schüler, als „befriedigend“. Dabei geben sie gar nicht an, daß die Schüler nicht einmal die Prüfungszeit ernsthaft für die Tests nutzten und sich lieber unterhielten. In anderen Ländern dürften die Tests, mit denen sich ja ein Ländervergleich ankündigte, ernster genommen worden sein, nicht zuletzt auch von den begleitenden Lehrkräf-ten. Die „Compliance“ hat sich inzwischen geändert. Auffälligerweise sind bei den neuen Tests die Ergebnisse aus den deutschen Bundesländern plötzlich besser geworden – schneller, als daß sie durch eine „bessere Schule“ verursacht sein könnten. Werden die Chancen der Kinder dadurch angeglichen, daß alle gemeinsam von den gleichen Lehrkräften mit gleichem Lehrplan, gleichen Lehrmitteln, gleichem Tempo und in gleicher Breite und Tiefe unterrichtet werden? Die Antwort muß lauten: nein! Die Aufgabenstellungen orientierten sich am anglo-amerikanischen Vorbild, das den deutschen Schülern nicht vertraut war. Weitere kritische Punkte, die die Beurteilung der Ergebnisse und den internationalen Vergleich (etwa mit Finnland) erschwerten, kamen hinzu. Es relativiert auch die Aussagefähigkeit der Testergebnisse, daß sich diese schon nach ein bis drei Jahren deutlich verbesserten, obwohl das Schulsystem das gleiche blieb und der Unterricht landesweit nicht so rasch einen ein- bis zweijährigen Rückstand aufholen kann. Während sich von deutscher Seite Jürgen Baumert, Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin, der mit der Auswertung der in dreijährigem Turnus erhobenen PISA-Studien befaßt ist, um eine wissenschaftlich tragfähige Auswertung und Interpretation der Ergebnisse bemüht, haben sich die Medien in aller Regel nicht für die wissenschaftliche Auswertung interessiert. Sie haben ignorant und ideologisch argumentiert und Falschbehauptungen in die Welt gesetzt: Das gegliederte deutsche Schulsystem habe sich als den anderen unterlegen erwiesen, und für schlechte Testergebnisse sei auch der lehrergelenkte, fach- und schülerzentrierte Unterricht in frontaler Sitzordnung verantwortlich zu machen. Dagegen hob Baumert hervor, daß dieses – vor allem auch den Lehrer sehr anstrengende – Unterrichtsverfahren in den weiterführenden Schulen nachgewiesenermaßen den größten Zuwachs an kognitivem Wissen und Können bei größtmöglicher Schülerbeteiligung und geringstem Zeitbedarf erzielt und am meisten vom kompetenten Lehrer profitiert. Daß zunächst die Leistungen der deutschen Schüler bei den internationalen Erhebungen bundesweit nur im Mittelfeld aller beteiligten Länder lagen, war für viele die wichtigste Botschaft. Die Ergebnisse unterschieden sich aber von Bundesland zu Bundesland stark. Bayern, Sachsen und auch noch Baden-Württemberg lagen trotz der ungewohnten Aufgabenarten und der damals noch schlechten „Compliance“ der deutschen Schulen international im Spitzenbereich. Dabei gab es auch innerhalb eines Bundeslandes „gute“ und „schlechte“ Schulen. Alarmierend war der hohe Anteil von Schülern, die die niedrigste Kompetenzstufe nicht erreichten, einfache Texte nicht verstanden und textgebundene Aufgaben und Rechnungen nicht lösen konnten. Kinder von Ausländern gehören überproportional in diese Gruppe. Dafür wird die deutsche Bildungspolitik gescholten, weil es ihr nicht gelungen sei, diese Schüler – unter den fünfzehnjährigen PISA-Teilnehmern waren es 14 Prozent – besser zu fördern. Aber werden denn die Chancen der Kinder dadurch angeglichen, daß alle gemeinsam von den gleichen Lehrkräften mit gleichem Lehrplan, gleichen Lehrmitteln, gleichem Tempo und in gleicher Breite und Tiefe unterrichtet und mit gleichen Leistungserhebungen das Erreichen der Lernziele, die Lernfortschritte, überprüft und bewertet werden? Wird so Gleichheit erreicht, unabhängig von der Auffassungsgabe der Schüler, von Lerntempo, innerer Motivation und Lerneifer und unabhängig von den fürs kognitive Lernen maßgeblichen Begabungen: der Denk-, Vorstellungs-, Abstraktions- und Erinnerungsfähigkeit, der Logik, dem induktiven und deduktiven Schlußfolgern, der Begabung für Sprache, für Geometrie, Algebra, Musik und kreatives Gestalten? Schon aus logischen Gründen lautet die Antwort: nein. Dementsprechend wird im Sport und in der musikalischen Erziehung nicht im Einheitskollektiv trainiert, gelernt und geübt, sondern dem Leistungsstand und Leistungsvermögen der Übenden entsprechend. Soziales Lernen, für das es ebenfalls unterschiedliche Begabung und unterschiedliche innere Bereitschaft (Motivation) gibt, kann in jeder Lerngruppe, in jeder Schulart stattfinden. Es richtet sich immer und überall nach dem jeweils für das Sozialverhalten Erforderlichen. Worauf es dabei immer ankommt, sind Rücksicht, Hilfsbereitschaft, Bereitschaft zum Zusammenleben, Anerkennung, Respekt vor der Würde jedes Menschen, Toleranz und ihre Grenzen, vor allem Verantwortung – und zuallererst: Selbstdisziplin. Die diesbezügliche Förderung jedes jungen Menschen ist Fürsorge auf dem Weg zu diesem Ziel und sollte Hauptaufgabe sein der Erziehung in Elternhaus und Schule. Der Bildungsauftrag der Schule bezieht sich auf die Förderung des vorwiegend kognitiven Lernens, der Orientierung in der Welt und deren geistiger Aneignung. Es gibt verschiedene Vorbedingungen und Behinderungen, und es sind viele Schüler, unterschiedliche Neigungen und uneinheitliche Begabungen unter einen Hut zu bringen. Ein Optimum ist daher unmöglich. Schlecht aber ist, Schüler zu überfordern, und schlecht ist, sie zu unterfordern. Die Überforderung hängt den Schüler ab und erstickt die Motivation. Unterforderung läßt rasch Langeweile und Desinteresse aufkommen, sie senkt Aufmerksamkeit und Lernbereitschaft, so daß bald Leistungsabfälle – oft verbunden mit Fehlverhalten – auftreten, wie man sie nicht selten drastisch bei Hochbegabten erlebt. Deshalb befürworten Eltern und Schüler in aller Regel selbst eine den Schülerfähigkeiten entsprechende Sonderung beim Lernen, Studieren, selbsttätigen „Forschen“ und kreativen Gestalten, beim Üben zum Festigen und Vertiefen des Gelernten und beim Trainieren ihrer körperlichen Fertigkeiten und Entwickeln ihrer geistigen Fähigkeiten. In bemerkenswerter Unbekümmertheit geht die neuerliche Kritik am gegliederten Schulsystem über den Willen der Eltern hinweg, die für ihre schulisch begabten Kinder das gegliederte Schulsystem wünschen – so wie es dann auch die Kinder selbst bevorzugen. Was die Bildungsideologen heute unterschlagen, ist, daß es in Deutschland durchaus Erfahrungen mit Gesamtschulen gibt, die die Schüler ja gerade nicht nach ihrem Leistungsvermögen aufteilen. Die Erfahrungen mit diesen Schulen steigerten jedoch das Interesse der Eltern am gegliederten Schulsystem und ließen die Tendenz, Gesamtschulen auszuweiten, auch in SPD-Ländern zunächst abflauen. In bemerkenswerter Unbekümmertheit geht die neuerliche Kritik am gegliederten Schulsystem auch über den Willen der Eltern hinweg, die für ihre schulisch begabten Kinder das gegliederte Schulsystem mit früher Differenzierung und dem Angebot des Gymnasiums wünschen – so wie es dann auch die Kinder selbst bevorzugen. Daß Kinder mit Migrationshintergrund überdurchschnittlich häufig keinen qualifizierten Hauptschulabschluß schaffen und überdurchschnittlich wenige das Abitur, ist eine Tatsache. Das ist nicht nur in Deutschland so, wo der Anteil dieser ausländischen Kinder allerdings recht hoch ist. Diese Tatsache ist folgenschwer. Denn Jugendliche ohne qualifizierten Schulabschluß haben in Deutschland kaum eine Chance auf einen Ausbildungs- und Arbeitsplatz. Arbeitsplätze für nicht- und wenigqualifizierte Berufsanfänger stehen wegen der technischen Entwicklung kaum noch zur Verfügung, und sie werden weiter abgebaut. Neue Arbeitsplätze entstehen, wie die Statistiken der Arbeitsagenturen seit Jahrzehnten zeigen, fast nur noch in Berufsfeldern für Abiturienten und Fachabiturienten sowie Absolventen von Fachakademien, Fachhochschulen und Universitäten. Dementsprechend ist auch die Arbeitslosigkeit bei Fachhochschul- und Universitätsabsolventen seit 30 Jahren nicht halb so hoch wie im gesamten Durchschnitt. Die Bundesagentur für Arbeit lag richtig mit ihren Warnungen, daß mit den bisherigen Übertrittsquoten ans Gymnasium der gestiegene und weiter steigende Bedarf an Hochschulabsolventen nicht gedeckt werden kann. In der Folge wird man sich künftig darauf einstellen müssen, daß unter den Abiturienten große Leistungsunterschiede, zumal im Zeugnisdurchschnitt der vielen Fächer, anzutreffen sind. Die Schulpolitik darf nicht tatenlos zusehen, wie der Nachwuchs der Einwanderer, oft schon mit deutscher Staatsangehörigkeit „gleichgestellt“, in der Arbeitslosigkeit versinkt und auch dem Land eine schwere Hypothek aufbürdet. Die so oft beschworene Integration ist in vielen Fällen völlig ausgeblieben, wodurch eine weitere Integration erschwert wird. Die Integration verbessert sich aber nicht dadurch, daß Schüler nicht mehr entsprechend ihrer Eignung auf Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien verteilt werden, sondern etwa bis zur 10. Klasse im gleichen Klassenverband bleiben. Tatsächlich würde dadurch der Anteil der Einwandererkinder in der Klasse nicht mehr so hoch sein wie in Hauptschulklassen, wo er in Extremfällen bis über 90 Prozent beträgt. Begabungsunterschiede und die nur allzu oft anzutreffende Integrations- und Schulunwilligkeit der Migrantenkinder nehmen die Bildungsreformer aber offensichtlich bewußt in Kauf – frei nach dem Motto: Soll sich die heimische Bevölkerung doch endlich besser den Verhältnissen anpassen. Hans Binder ist Oberstudiendirektor in Lindau am Bodensee.

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