Eine historische Marke ist überschritten: Am 5. Mai 2006 erfuhren die Deutschen, daß ihre Staatsschulden (Bund und Länder) den Betrag von 1.500 Milliarden Euro erreicht und überschritten haben. Sie erfuhren das freilich nicht von einem Politiker, etwa der Bundeskanzlerin oder dem Bundesfinanzminister, die sonst die geringsten Lappalien mit geschwellten Lippen mitzuteilen pflegen, sondern durch den Präsidenten des Bundes der Steuerzahler, Karl Heinz Däke. Die horrende Summe, die sich kein normaler Mensch vorzustellen vermag, wird freilich erst plastisch deutlich durch sie erläuternde Zahlen: Jede Sekunde kommen heute 2.141 Euro hinzu. Der Bund muß jeden fünften Euro, also zwanzig Prozent seines Haushalts, für Schuldzinsen ausgeben. Allein schon in den ersten vier Monaten dieses Jahres waren das 23 Milliarden Euro. Auf jedem der 82 Millionen Einwohner der Bundesrepublik (vom Neugeborenen bis zum Greis) lasten damit über 18.200 Euro öffentlicher Schulden. Der Präsident des Bundesrechnungshofes, Dieter Engel, hat die dramatische Lage mit den Worten kritisiert: „Es ist nicht fünf vor zwölf, sondern es ist fünf nach zwölf.“ Ein zügiger Abbau der Schulden sei aus fiskalischen, volkswirtschaftlichen und auch aus ethischen Gründen dringend geboten. Steuerzahlerbundpräsident Däke fordert vom Bund ein grundgesetzliches Kreditaufnahmeverbot. Die jetzige Horrorzahl stammt natürlich nicht erst von gestern und heute. Sie hat eine lange Vorgeschichte, die tiefe Schäden in der Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland offenlegt, die verderbliche Wucherung des Sozialstaates zur Wohlfahrts- und Gefälligkeitsdemokratie, auch den Mentalitätswandel der Bürger gegenüber dem Staat, den sie vor allem als „wohlfahrtsproduzierendes Dienstleistungsunternehmen“ begreifen. Klarsichtige Geister haben darauf früh, aber leider folgenlos hingewiesen. So warnte der Theologe Helmut Thielicke schon in einer Rede vor dem Deutschen Bundestag zum 17. Juni 1962: „Wir drohen eine Generation von Anspruchsvollen und permanent Fordernden zu werden, Unser Dogma ist der Satz ‚Das steht uns zu‘.“ Bald darauf brachte der Schriftsteller Rudolf Krämer-Badoni das allgemeine Bewußtsein im westlichen Nachkriegsdeutschland auf die Formel „Immer mehr Behagen bei immer weniger Anstrengung“. Was der Soziologe Götz Briefs schon 1926 als das Kernstück des ethischen Wandels der Neuzeit gekennzeichnet hatte – die Ethisierung des Ideals des Wohllebens -, radikalisierte sich im westlichen Nachkriegsdeutschland seit den sechziger Jahren in erstaunlicher Weise: Der Staat wurde zum Adressaten materieller Wunscherfüllung, die Politik der Idee nach zu einer Technik des Glücks. Die Versorgung mit materiellem Glück wurde, wie Arnold Gehlen sagen sollte, „zu einer ethischen, zuerst an den Staat gerichteten Forderung“, die „ihn unter einen nicht mehr zu kontrollierenden Sozialdruck“ setzt. Der Staat soll möglichst viel leisten und den Wohlstand aller garantieren, zugleich aber auch „möglichst verschwinden, um die Freien mit Pflichten zu verschonen“. Diese gesamtgesellschaftliche Mentalität mußte sich natürlich im politischen Prozeß niederschlagen, der – immerhin von Richard von Weizsäcker – treffend als wechselseitige „Vorteilsaufteilung zwischen Politik und Gesellschaft“ beschrieben wurde, dem Streben der Gesellschaft und ihrer mächtigen Verbände und Verbandsführungen nach Erhaltung und Mehrung des Wohlstandes und dem reziproken Streben der Parteiführungen und der politischen Klasse nach Erhalt und Stärkung ihrer Macht. „Wohlstandserhalt der Gesellschaft gegen Machterhalt der Parteiern und politischen Klasse“ war Weizsäckers Formel. ……………………………. Leider folgten keine Taten auf Helmut Kohls Einsicht: „Zu viele haben zu lange auf Kosten anderer gelebt, der Staat auf Kosten der Bürger, Bürger auf Kosten von Mitbürgern und – wir sollten es ehrlich sagen – wir alle auf Kosten der heranwachsenden Generation.“ ……………………………. Dieser früh fehlerhafte Zirkel des politischen Prozesses in der Bundesrepublik, den die genannten Kritiker unter ihre Lupe nahmen, dieser sich rasch entwickelnde und bald hart betonierte „Korporatismus“ des bundesdeutschen „Gesellschafts-, Verbände- und Gefälligkeitsstaates“, wie ihn Theodor Eschenburg und der unvergessene Erwin Scheuch beklagten und attackierten, war alles andere als ein Konstrukt von Intellektuellen. Er schlug sich sehr real und konkret zumal in der öffentlichen Ausgabenexplosion nieder. Während zu Beginn der Bundesrepublik, 1950, die öffentliche Verschuldung zehn Milliarden Mark betrug und sie bis 1970 auf maßvolle 63 Milliarden Mark anstieg, begann die öffentliche Schuldenexplosion ziemlich exakt mit dem Beginn der sozialliberalen Koalition 1969/70 mit dem Ergebnis, daß sie schon bis zum Ende des Jahrzehnts 1980 auf bereits 237 Milliarden anschwoll. Es war das Jahrzehnt, in dem man allenthalben von den großen „Schlucken aus der Pulle“ sprach und in dem sich die Gewerkschaften mächtig rührten unter dem Stichwort des „Kluncker-Effekts“ (benannt nach dem langjährigen ÖTV-Gewerkschaftsführer Heinz Kluncker). In diesem Zeitraum verdreifachten sich die Sozialleistungen des Staates (Wohngeld, Kindergeld, Ausbildungsförderung, Sozialhilfe, Kriegsopferversorgung etc.) von 52 auf 151,5 Milliarden. Entsprechend stiegen die öffentlichen Gesamtschulden von Bund, Ländern und Gemeinden plus Bundesbahn und Bundespost von 88,3 Milliarden (1971) auf 435,7 Milliarden DM (1980), davon die des Bundes allein von 34,1 Milliarden auf 218,7 Milliarden. In einzelnen Bundesländern, vor allem den „progressiv“ regierten, verdoppelten sich die Staatsschulden innerhalb von fünf Jahren (1970 bis 1975). Nordrhein-Westfalen benötigte dazu gar nur drei Jahre (bis 1973). Schon jetzt diente die Schuldenaufnahme weniger der Ankurbelung der Wirtschaft in der Rezession entsprechend dem Modell von John Maynard Keynes als vielmehr der Schließung der Haushaltslöcher und vor allem der Bedienung der Schulden. Es war die Zeit der Vervielfachung etwa des öffentlichen Verwaltungspersonals nach der Formel „Parkinson plus Kluncker“ mit einer Verdoppelung der Zahl der Beamten und Angestellten und einem entsprechenden Anstieg der Personalkosten im Bundeshaushalt schon bis zur Mitte der achtziger Jahre auf etwa vierzig Prozent, der in den Ländern durch die Lehrergehälter noch höher ist. Im gleichen Zeitraum ging die Zahl selbständiger Erwerbspersonen um 35 Prozent zurück. Die Statistik zeigt natürlich auch die Auswirkungen des Leistungstransfers in die neuen Bundesländer auf den weiteren beträchtlichen Anstieg der Staatsausgaben und der Staatsverschuldung ab 1990, so daß letztere im ersten Jahrzehnt der deutschen Einheit von 536 auf 1.198 Milliarden Euro anwuchs und in den folgenden sechs Jahren bis Mai 2006 nochmals auf die aktuelle Summe von 1.500 Milliarden Euro. Der Sockel der deutschen Staatsschulden war also schon vor 1989 unverhältnismäßig hoch, ganz davon abgesehen, daß im Wohlfahrtsstaat Bundesrepublik ohnehinkaum an öffentliche Sparsamkeit oder gar an Vorsorge für den Fall gedacht wurde, daß die staatliche Einheit aktuell würde. Jedenfalls war der Wohlfahrtsstaat der alten Bundesrepublik schon am Ende der sozial-liberalen Koalition faktisch unbezahlbar geworden und in aller Zukunft nur noch auf Pump zu finanzieren. Spätestens zu diesem Zeitpunkt, also im Herbst 1982, wäre die strikte Kurskorrektur der Finanzpolitik des Staates wie in zahlreichen westlichen Staaten auch bei uns fällig gewesen – allein schon aus der grundlegenden Einsicht, daß der öffentliche Schuldenberg die staatlichen Gestaltungsmöglichkeiten zu ersticken begann und die wohlfahrtsstaatlichen Ansprüche der heute Lebenden die künftigen Generationen untragbar belasten mußten. Tatsächlich waren in der ersten Regierungserklärung Helmut Kohls vom 13. Oktober 1982 solche Einsichten enthalten, die um so mehr erinnert zu werden verdienen, als die praktische Politik dann allzu bald von ihnen wieder Abschied nahm. Die sozialliberale Regierung, so Kohl damals, hatte sich als unfähig erwiesen, das Netz der sozialen Sicherung weiterhin zu gewährleisten und die Staatsfinanzen in Ordnung zu halten. Die Bundesrepublik, so Kohl weiter, war an den Rand des Ruins geraten, weil die Regierungen jahrelang mehr ausgegeben als eingenommen hatten. Kohl nahm die konservative Mahnung der „politisch-moralischen Krise und Wende“ (Günter Rohrmoser) zumindest verbal auf und umriß die Bilanz der sozialliberalen Ära: „Zu viele haben zu lange auf Kosten anderer gelebt, der Staat auf Kosten der Bürger, Bürger auf Kosten von Mitbürgern und – wir sollten es ehrlich sagen – wir alle auf Kosten der heranwachsenden Generation.“ Das war eine treffende Charakterisierung der Lage durch Kohls Redenverfasser Michael Stürmer gewesen. Und auch die daraus gezogene Folgerung im Kennedy-Ton entsprach der damaligen Situation: „Die Frage der Zukunft lautet nicht, wieviel der Staat für seine Bürger tun kann. Die Frage der Zukunft lautet, wie sich Freiheit, Dynamik und Selbstverantwortung neu entfalten können.“ Diese von Kohl proklamierte „Politik der Erneuerung“ hatte tatsächlich zunächst auch einige Anfangserfolge aufzuweisen. Es gelang, die Preissteigerungsrate wieder auf den Stand der fünfziger Jahre zurückzuführen, die Explosion der Staatsausgaben und der Netto-Kreditverschuldung zeitweilig sogar zu stoppen und zu mindern. Zwischen 1983 und 1986 gelang es, unter der Regie des damaligen Bundesfinanzministers Gerhard Stoltenberg im Bundeshaushalt mehr als dreißig Milliarden Mark einzusparen und die Renten- und Krankenversicherungen wieder zu stabilisieren. Aber etwa ab 1986/87 gerieten die Krise des Sozialstaats und die zu Beginn der achtziger Jahre gefaßten guten Vorsätze wieder in Vergessenheit. Die SPD trat mit abenteuerlichen Konzepten wie einer „Maschinensteuer“ hervor, und die Grünen als angebliche Reformtruppe hatten den Nutzen sozialstaatlicher „Staatsknete“ begriffen und forderten ein steuerfinanziertes „Bürgergehalt“. Die verhängnisvolle Parteienkonkurrenz um den wohlfahrtsstaatlichen Vorrang kam erneut in Fahrt. Nach einer kurzen Konsolidierungsphase begann die Sozialleistungsquote wieder zu wuchern. 1982 verhallte Helmut Schmidts Warnung vor seiner Fraktion: „Irgendwo ist das Ende der Fahnenstange. Das Sozialprodukt hat nur einhundert Prozent.“ Hatte die Steuerreform Stoltenbergs immerhin eine Entlastung von etwa 55 Milliarden erbracht, Investitionen und eine kurzzeitige Konsolidierung ermöglicht, so begann der Bund 1989 wieder fünf bis sechs Prozent mehr auszugeben als im Vorjahr. Obwohl die Neuverschuldung des Bun-des wegen der günstigen Wirtschaftslage 1989 sogar sank, traten Bund, Länder, Gemeinden, Bahn und Post in das Jahr 1989 mit einem Schuldenstand von zusammen etwa einer Billion Mark ein mit einer entsprechend hohen Zinslast. Es war zwar gelungen, die Staatsquote von etwa fünfzig Prozent (1982) auf etwa 45 Prozent (1990) zu senken. Umso mehr entwickelte sich aber bei allen Parteien wieder die Neigung, wohlfahrtsstaatlich „draufzusatteln“ und sich, koste es, was es wolle, mit entsprechender Überbietungskonkurrenz zu profilieren. ……………………………. Auch nach der deutschen Einheit 1990 wurde wenig getan, die Leitfigur des „selbständigen“ Menschen zu fördern, vielmehr wurde der „betreute und abhängige“ Mensch nun auch im wiedervereinigten Land zum Zentrum wohlfahrtsstaatlicher Politik. ……………………………. Im gleichen Augenblick, in dem das unerwartete Geschenk der deutschen Einheit eine grundlegende Kurskorrektur der bisherigen Politik im Sinne einer nationalen Kraftanstrengung und tiefgreifender Reformen nötig und möglich gemacht und wohl auch erleichtert hätte, fiel der Regierung Kohl nichts Besseres ein, als die bereits sichtbar gescheiterten wohlfahrtsstaatlichen Paradigmen der alten Bundesrepublik eins zu eins auch in den „neuen Bundesländern“ umzusetzen und die Berliner Republik lediglich als eine erweiterte alte Bundesrepublik zu gestalten, wie das schon mit den ersten Grundentscheidungen der Währungsreform im Sommer 1990 mit dem Umrechnungskurs von D-Mark und DDR-Mark begann, der Gesamtdeutschland vollends in die Schuldenfalle stürzen sollte. Das bisherige kapitalistisch-wohlfahrtsstaatliche Modell in der alten Bundesrepublik und die säkularisierte Heils-erwartung des Marxismus und der sowjetkommunistischen Diktatur in der DDR verschmolzen gewissermaßen zu einer verstärkt wohlfahrtsstaatlichen „Forderungsgesellschaft“ mit dem Staat als wesentlichem Adressaten. Wenig wurde getan, um die Leitfigur des „selbständigen“ Menschen zu fördern, vielmehr wurde der „betreute und abhängige“ Mensch nun auch im wiedervereinigten Land zum Zentrum wohlfahrtsstaatlicher Politik. Man entschied sich weitgehend für die falsche Alternative der Lageanalyse, die Helmut Schelsky vorausschauend schon in den siebziger Jahren vorgenommen hatte. Die Behandlung des nach Kriegsende von den Kommunisten enteigneten Eigentums im sowjetkommunistischen Teilstaat nach 1990 auch im Rechtsstaat der Bundesrepublik markierte eindrücklich die Fehlwege, die man beschritt, so daß ein starker Mittelstand in produzierendem Gewerbe und Landwirtschaft in den neuen Ländern nicht entstehen konnte. Und nicht zuletzt auch die CDU verabschiedete sich immer drastischer von ihren antitotalitären Einsichten der Nachkriegszeit, wie sie etwa der frühere Bundespräsident Heinrich Lübke auf die plastische Formel gebracht hatte, nicht nur im Märchen könne der „Staat des Tischlein-deck-dich“ allzu leicht in den „Staat des Knüppel-aus-dem-Sack“ umschlagen. Wer es intellektueller haben will, wird sich an die geniale Warnung des großen Analytikers Alexis de Tocqueville erinnern, der schon vor hundertfünfzig Jahren vor dem „Despotismus neuer Art“ gewarnt hatte, der auch im Schatten der demokratischen Volkssouveränität möglich ist, jener „gewaltigen bevormundenden Macht, die allein dafür sorgt, die Genüsse der Menschen zu sichern und ihr Schicksal zu überwachen. Sie ist unumschränkt, ins einzelne gehend, regelmäßig, vorsorgend und mild. Sie wäre der väterlichen Gewalt gleich, wenn sie wie diese das Ziel verfolgt, die Menschen auf das reife Alter vorzubereiten. Statt dessen aber sucht sie bloß, sie unwiderstehlich im Zustand der Kindheit festzuhalten. Sie arbeitet gern für deren Wohl, sie will aber dessen alleiniger Betreuer und Richter sein. Sie sorgt für ihre Sicherheit, ermißt und sichert ihren Bedarf, erleichtert ihre Vergnügungen, für ihre wichtigsten Geschäfte, lenkt ihre Industrie, ordnet ihre Erbschaften, teilt ihren Nachlaß, könnte sie ihnen nicht auch die Sorge des Nachdenkens und die Mühe des Lebens ganz abnehmen?“ Tocqueville rührte hier an die eigentlichen geistlosen und pseudoethischen Wurzeln der gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der wir uns heute befinden mit ihren Trends der angebliche Machbarkeit des perfekten gesellschaftlichen Zusammenlebens mit dem Ziel der „Zivilisierbarkeit des Menschen“ und dem säkularen Heilsverlangen nach ihrem wohlfahrtsstaatlichen Glück, durch das die „Vollendbarkeit der Geschichte“ möglich werden soll. Hans Freyer hat in seiner großen „Theorie des gegenwärtigen Zeitalters“ (1955) das Gesamtbild dieser Fehlentwicklungen gekennzeichnet bis hin zur „gut verpackten Ideologie“, die heute in der Zivilreligion der Political Correctness einschließlich ihrer justitiablen Durchsetzung längst freiheitsfeindliche Wirklichkeit geworden ist, eines wahren neuen Turmbaues zu Babel, der in den „Blasen“ der globalen Finanzwirtschaft einschließlich der Irrationalität moderner Staatsverschuldung seinen handgreiflichsten Ausdruck und das Menetekel seines Sturzes findet. Prof. Dr. Klaus Hornung lehrte Politikwissenschaften an der Universität Hohenheim. Im Forum der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt über „Die Normalität des Kulturkampfes“ (JF 15/06) Bild: John Pfahl, „Can Pile, Salvage Yard“, Connecticut, 1996
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