Auf dem weiten Gelände hinter der Neuen Messe in München-Riem kampieren bereits einige tausend Menschen. Sie haben in Schlafsäcken die kühle Nacht hier verbracht, um sich einen möglichst guten Platz nahe der Altarinsel zu sichern. Vereinzelte Scheinwerfer vom Rand des Areals tauchen das Lager in ein fahles Licht. Im ersten Morgengrauen fangen sich die Gestalten am Boden zu regen an. Schon um sechs Uhr beginnt ein geistliches Programm. Die speziell angefertigte Benedikt-Glocke läutet zum Gebet – ein erster Rosenkranz, danach das Lied „Lobet den Herrn“. Nach knapp einer Stunde haben zahlreiche Rosenkranzgebete und Hymnen die Müdigkeit der Nacht verscheucht, die Menge spricht wie in Trance. Ab acht Uhr werden neue Lieder intoniert. Die Sonne ist nun aufgegangen und scheint von einem strahlend blauen Himmel mit bayerischen Duftwölkchen herab. Inzwischen treffen immer mehr Besucher aus der Stadt ein. Einige zehntausend Menschen sind die knapp zehn Kilometer vom Ostbahnhof hierher gepilgert, andere Wege führen sternförmig von umliegenden Ortschaften nach Riem. Es sind lange Trecks von Familien, Pfadfindergruppen und auch ältere Menschen, die so immer zahlreicher zum Gottesdienst marschieren. Sie tragen Fahnen und Tücher in den weiß-gelben Farben des Vatikans, manch einer schwenkt bayerische, seltener deutsche oder ausländische Fahnen. Die Stimmung ist lebhaft, teilweise singen sie. Je näher das Ziel rückt, desto breiter wird der Strom der Pilger. Jeder erhält noch einen Beutel mit Gesangheft, Kirchzeitung und Getränken, dann teilen sie Ordner auf die abgetrennten Felder rund um die erhöhte Altarinsel ein. Das Areal für den Gottesdienst füllt sich nun mit immer mehr Volk. In den vorderen zwei Blocks haben geladene Ehrengäste auf Stühlen Platz genommen. Neben hohen Klerikern aus allen Kontinenten sind es vor allem Politiker, die bei keiner Massenveranstaltung fehlen wollen. Dahinter stehen Vertreter der Gemeinden und katholischen Verbände, ganze Heerscharen von Pfadfindern in ihrer grün-grauen Kluft sowie in Reih und Glied einige Kompanien der Gebirgsschützen, die trotz fester Trachtenmontur und dickem Filzhut nicht zu schwitzen scheinen. Rundherum aber breitet sich eine kaum zu übersehende Masse von Menschen aus. Von der rückwärtig aufgebauten Tribüne aus ähnelt die Szenerie einer brummenden Ameisenkolonie, über der an langen Drahtseilen eine bewegliche Kamera hin- und herflitzt. Pünktlich um 10 Uhr sieht man auf den Großbildleinwänden die Wagenkolonne des Papstes eintreffen. Benedikt XVI., wie die Kardinäle in grüne Gewänder gekleidet, steigt in sein Papamobil um und fährt zur Altarinsel. Beifall brandet auf, mehrere junge Frauen brechen in Tränen aus. Aus dem Block der Pfadfinder sind erste rhythmische „Benedetto“-Rufe zu hören. Doch bald schon klingen sie ab. Der Papst lächelt und breitet seine Arme zu einer segnenden Grußgeste aus. In den nächsten zwei Stunden zeigt sich: Dies ist kein poppiges „Event“, sondern ein würdiger Gottesdienst unter freiem Himmel. Nur der Papst wird von einer Spitze des weißen Zeltdachs beschirmt, den Kardinälen, Politikern und einer Viertelmillion Menschen brennt die Sonne in den Nacken. Viele haben zum Schutz die kleinen Vatikanflaggen wie Halstücher geknotet. „Lobet den Herrn“ – so erschallt es nun aus unzähligen Mündern. In seiner gut dreißigminütigen Predigt zeigt Ratzinger, daß er auch einer Millionenmasse eine ernste theologische Auseinandersetzung zumuten möchte. Die Taubheit der modernen Gesellschaft für Gott ist sein Thema. „Mit diesem Verlust an Wahrnehmung wird aber der Radius für die Beziehungen zur Wirklichkeit drastisch und gefährlich eingeschränkt“, warnt er. Das alleinige Vertrauen auf die Ratio reiche nicht aus. „Die Völker Afrikas und Asiens bewundern zwar die technischen Leistungen des Westens und unsere Wissenschaft, aber sie erschrecken vor einer Art von Vernünftigkeit, die Gott total aus dem Blickfeld des Menschen ausgrenzt und dies für die höchste Art von Vernunft ansieht, die man auch ihren Kulturen beibringen möchte.“ Die Menge lauscht den Worten wie gebannt. Einige Male wird Benedikt XVI. von Applaus unterbrochen; am stärksten wird geklatscht, als er sagt, die katholische Kirche sei „eine Kirche der Freiheit“. Tatsächlich hat die Zusammenkunft der Viertelmillion Christen, die in der Gluthitze zu ihrem Erlöser beten, etwas Befreiendes. Ratzingers Predigt hat einen starken Eindruck gemacht. Nach der Eucharistiefeier und dem Segen bilden sich zahlreiche Grüppchen, die über seine Worte diskutieren. Familien lassen sich erschöpft zum Picknick nieder, doch Gesprächsstoff ist vielerorts die Predigt. Manchen Zuhörern erschien sie zu abgehoben. „Es war eine so kluge, tiefgehende Ansprache von ungemeiner Klarheit“, sagt dagegen ein junger Mann am Rande des Weges. Auch die Kritik Ratzingers an einer Kirche, die ihre Existenz vornehmlich als Sozialdienst, nicht mehr als Institution zur Verkündigung des Evangeliums verstehe, habe ins Schwarze getroffen. Eine Frau wendet ein, die Tendenz zur Selbstsäkularisierung sei nun vorüber. Erstaunlich ist, daß die üblichen „kritischen Christen“ fehlen, die sonst Kirchentage bevölkern. Weit und breit keine „Kirche von unten“, dafür Flugblätter von musizierenden Anhängern der strenggläubigen Sekte „Zwölf Stämme“. Das größte Transparent hat die Organisation „Jugend für das Leben“ aufgespannt, die sich gegen die massenhafte Abtreibungspraxis einsetzt. Auffällig ist der Respekt, den Ratzinger überall genießt. Nicht nur sein Amt, die Person scheint größte Achtung zu genießen. Aber nicht allein Achtung. Der Heimatbesuch Benedikt XVI. löst in Bayern eine ungeheure Begeisterung aus – ja, die Schulferien wurden gar offiziell verlängert. Die Stimmung ist unbeschreiblich. Ob Benedikts Heilige Messe vor rund 60.000 Gläubigen am Kapellplatz im Marienwallfahrtsort Altötting, ob der Festgottesdienst auf dem Islinger Feld in Regensburg vor mehr als 250.000 Menschen, an all seinen Besuchsstationen wird der Papst warmherzig empfangen. Und der volksnahe, von den Eindrücken bewegte Pontifex gibt spontan zurück, was ihm entgegengebracht wird. Immer wieder bricht er zur Überraschung seiner Begleiter aus dem strengen Protokoll aus und genießt das Bad in der Menge. Selbst die hochsommerlichen Temperaturen und die strikte Programmführung scheinen Benedikt eher zu beflügeln denn zu ermatten, und so schüttelt er freudig Hand um Hand, spendet Segen und findet passende Worte: „Ich hatte mir gar nicht vorstellen können und weiß es auch jetzt nur im großen und allgemeinen, wieviel Kleinarbeit dazu gehörte, daß wir alle jetzt so beieinander sein können. Für all das kann ich nur einfach ein ganz herzliches Vergelt’s Gott sagen.“ „Ja, wer glaubt, ist nie allein“, erklärt Benedikt XVI. zum Schluß auf dem Islinger Feld, und die Gläubigen sind hingerissen. Foto: Gläubige begrüßen Papst Benedikt XVI. nach der Heiligen Messe vergangenen Sonntag in München: Zur Überraschung seiner Begleiter bricht Benedikt XVI. gern und oft aus dem strengen Protokoll aus