Die Mehrheit der Bürger in Sachsen-Anhalt hat am vergangenen Sonntag die Wahl boykottiert. 55,6 Prozent der Wahlberechtigten lehnten es ab, ihr Kreuz zu machen. Noch nie haben sich so viele dieser Bürgerpflicht verweigert. In Baden-Württemberg, dessen badischer Teil viel auf seine demokratisch-revolutionäre Tradition von 1848 hält, verweigerten 46,6 Prozent der Bürger die Stimmabgabe, in Rheinland-Pfalz zählen immer noch 41,8 Prozent zur „Nichtwählerpartei“. Es ist erstaunlich, wie schnell über diese Abstimmung mit den Füßen hinweggegangen wird. Abwiegelnd wird das Argument einer „Normalisierung“ angeführt, schließlich sinke auch in anderen „funktionierenden Demokratien“ die Wahlbeteiligung. Die Bürger sollen einfach dermaßen zufrieden mit den Verhältnissen sein, daß für sie eine Stimmabgabe überflüssig ist. Die Akklamation erfolgt quasi durch Kopfnicken, ein Besuch der Wahlkabine ist gar nicht mehr notwendig. Der Politikwissenschaftler Eckhard Jesse sieht in der taz die geringe Wahlbeteiligung bzw. das Desinteresse, Protest zu wählen, in Sachsen-Anhalt sogar als Ausdruck der Zufriedenheit der Bürger: „Die haben den Eindruck, daß es aufwärts geht, wenn auch langsamer, als sie es sich wünschen.“ Lautstark ist das Aufatmen zu vernehmen, daß es keiner der rechtsgerichteten Formationen unterschiedlicher Provenienz gelungen ist, über die Fünf-Prozent-Hürde zu kommen. In Sachsen-Anhalt blieb die mit der NPD in einem „Volksfrontbündnis“ kooperierende DVU trotz eines millionenschweren Wahlkampfes, bei dem die Alleen mit Plakaten zugepflastert wurden, bei 3 Prozent stehen, die Republikaner halbierten in Baden-Württemberg ihre Wählerzahl und erreichten 2,5 Prozent, wo sie von 1992 bis 2001 im Landtag saßen. Ganz offensichtlich genießt die Berliner Große Koalition noch einen gewissen Vertrauensvorschuß. Merkel und Müntefering gelingt es, die Bevölkerung in Ruhe zu wiegen und eine diffuse Zuversicht zu wecken, die auch von einer minimalen wirtschaftlichen Aufhellung gedeckt wird. Die großen sozialen Brennpunktthemen – Überfremdung, Kollaps der Sozialsysteme, Weg in den Schuldenstaat, demographischer Volkstod – sind momentan ausgeklammert und spielen bei der Wahlentscheidung keine zentrale Rolle. Die Bürger warten ab. Für das schlechte Abschneiden rechter Protestformationen sorgt aber auch deren desolater Zustand. Sie erwecken bei den Bürgern nicht das Vertrauen, eine ernstzunehmende Alternative zu etablierten Parteien anzubieten. Dies gelang von links auch nicht der WASG/Linkspartei, obwohl sie über große Medienpräsenz, wohlwollende Presseberichterstattung und bekannte Ex-Sozialdemokraten wie Oskar Lafontaine und Ulrich Maurer (Ex-SPD-Parteichef von Baden-Württemberg) verfügt. Die derzeitige trügerische politische Windstille kann jedoch schon bald von heftigen Sturmböen abgelöst werden. Große Koalitionen haben noch immer zu einer Stärkung der kleinen Parteien – besonders an den Rändern – geführt. Ein seriöses Politikangebot rechts von CDU/CSU hätte deshalb durchaus Chancen – wenn sie denn richtig wahrgenommen würden.