Die Hydra war nach der griechischen Sage eine gefräßige Seeschlange mit neun Köpfen. Niemand wurde mit ihr fertig, bis schließlich Herakles das Biest besiegte. Die Figur der Hydra ist ein Archetypus, welcher in der Geschichte in immer wieder neuer Gestalt als Bedrohung der Menschen auftaucht. Dieser Archetypus beschreibt sehr genau die heutige Gestalt der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland. Deshalb besteht dringender, von der Politik an dieser entscheidenden Stelle bisher überhaupt nicht in Betracht gezogener Handlungsbedarf, vorrangig vor jedem anderen Reformansatz. Betrachten wir das „Monstrum“ genauer. Grundlage der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland ist das für alle Krankenkassen geltende Sozialgesetzbuch (SGB). Die Krankenkassen sind danach Körperschaften des öffentlichen Rechts. Ihnen ist zwar „Selbstverwaltung“ durch die Versicherten und die Arbeitgeber zugebilligt. Gleichwohl sind sie Teil der (mittelbaren) Staatsverwaltung und des öffentlichen Dienstes. In diesem Rahmen genießen sie Privilegien, welche die Kassen inzwischen bei etwa fünfzig Millionen Mitgliedern zu einem parlamentarischer Kontrolle weitgehend entzogenen Staat im Staate gemacht haben. Ende 2005 gab es bei fallender Tendenz 250 Krankenkassen, davon etwa 200 Betriebskrankenkassen (diese mit durchschnittlich nur um die 50.000 Mitgliedern). Die Mitarbeiter werden deutlich höher bezahlt als vergleichbare Angehörige des öffentlichen Dienstes in anderen Bereichen. Die Vorstandsposten mancher Kassen sind so gut dotiert, daß sie für einen ehemaligen Bundeskanzler als Beförderungsstelle in Betracht kämen. Auch die höchsten Beamten können nicht mithalten: Beispielsweise verdiente 2005 ein Vorstand der Techniker-Krankenkasse ein stattliches Jahresbrutto von 219.000 Euro. Die dem Präsidenten des Bundesrechnungshofs und den Staatssekretären des Bundes vorbehaltene höchste Besoldungsgruppe B 11 erbringt demgegenüber nur ein jährliches Grundgehalt von 124.243 Euro. Obwohl es sich um öffentlichen Dienst handelt, weigern sich viele Kassen, die Einkommen ihrer Vorstände zu veröffentlichen. Gegen einige hat das Bundesversicherungsamt inzwischen auf Auskunft klagen müssen, um herauszufinden, in welcher Weise sich Vorstände aus den Zwangsbeiträgen der Mitglieder bedienen. ……………………………. Mit der Schaffung einer der Deutschen Rentenversicherung vergleichbaren Deutschen Krankenversicherung würde dieser kostenträchtige Spuk verschwinden. Auch die Kassenärztlichen Vereinigungen könnten effektiver und billiger arbeiten. ……………………………. Die Versicherungen behaupten, bei den Vorständen handle es sich um „Manager“, die entsprechend bezahlt werden müßten. In Wirklichkeit sind sie Verwaltungsbeamte wie die Führungskräfte anderer Zweige der Leistungsverwaltung auch. Wie diese geben sie zwangsweise eingetriebene Beiträge der Bürger nach gesetzlichen Vorgaben wieder aus. Ein eigenes Risiko etwa der Insolvenz tragen die Kassen nicht, im Ernstfall werden „autonom“ – was sonst nur der Gesetzgeber kann – die Zwangsbeiträge erhöht. Für die Besserstellung des Kassenpersonals gegenüber dem sonstigen öffentlichen Dienst gibt es keine Rechtfertigung. Ein Vergleich mit der privaten Wirtschaft ist auch deshalb abwegig, weil die Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst viel sicherer sind als in der privaten Wirtschaft. Schon auf den ersten Blick wird erkennbar: In diesem „System“ werden alle nach SGB V fälligen Grundsatzentscheidungen über die gleichen Probleme nicht einmal, sondern mit enormem Verwaltungsaufwand 250mal getroffen. 250 Verwaltungsköpfe, welche identische Fragen jeweils „autonom“ regeln: mit Dienstanweisungen, Formularen, Besprechungen, Rundschreiben an Versicherte und Arbeitgeber etc. – eine beispiellose Verschwendung von Beitragsgeldern. Diese Zersplitterung der gesetzlichen Krankenversicherung belastet parallel auch die Arbeitgeber. Schon jeder Kleinbetrieb hat in der Regel mehrere Kassen zu bedienen, Großbetriebe haben es oft mit mehr als hundert Kassen gleichzeitig zu tun, die alle in Einzelfragen unterschiedlich agieren. Milliarden Euro wären einzusparen, wenn alle Krankenkassen zu einer einzigen Bundeskrankenkasse verschmolzen würden: ein Weg, der soeben im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung beschritten wurde. Während in der Wirtschaft unter dem Druck des Marktes ein Zusammenschluß nach dem anderen zu beobachten ist, haben die Krankenkassen solches nicht nötig. Sie bestehen auf ihrer die Pfründen Hunderter von „Kleinkönigen“ und „Duodezfürsten“ sichernden „Eigenständigkeit“, die in Wirklichkeit, wie noch darzulegen sein wird, nur noch eine Scheineigenständigkeit ist. Damit nicht genug: Weil es so viele Kassen gibt, muß es auch „Verbände“ geben. Das SGB V verlangt die Bildung zahlreicher „Landesverbände“, „Bundesverbände“ und „Spitzenverbände“. Auch „regionale Kassenverbände“ sind möglich, ebenso die Bildung von „Arbeitsgemeinschaften“. Alle diese Verbände arbeiten, koordinieren, tagen – und kosten Abermillionen von Euro, welche die Beitragszahler aufzubringen haben. Mit der Schaffung einer der Deutschen Rentenversicherung vergleichbaren Deutschen Krankenversicherung würde dieser kostenträchtige Spuk verschwinden. Auch die Arbeit der Kassenärztlichen Vereinigungen würde durch den Wegfall der Kassenzersplitterung wesentlich vereinfacht und verbilligt. Der Weg in das heutige Chaos begann, als Horst Seehofer als zuständiger Minister der Regierung Kohl meinte, die Kassen müßten nicht nur gegen die privaten Krankenversicherungen, sondern auch gegeneinander Wettbewerb treiben. Dafür sollten sie (obwohl für alle doch das gleiche Gesetz gilt) ihre Leistungsversprechen variieren. Den Versicherten wurde – das war dann konsequent – die Möglichkeit kurzfristigen Kassenwechsels erleichtert. Der Einfall kam gut an, war aber nicht durchdacht: Den Urhebern fehlte das Grundwissen über den Unterschied der Funktionsweisen öffentlicher Institutionen einerseits und privater Wirtschaft andererseits. Wettbewerb ist eine Sache der privaten Wirtschaft. Dort ist er auf gute Produkte und Dienstleistungen ausgerichtet. Bei Mißerfolg droht der Verlust aller Einsätze bis hin zur Insolvenz. Die Krankenkassen erfüllen aber eine öffentliche Aufgabe, die für alle gleich im SGB V umschrieben ist. Sie sind nicht auf Gewinn ausgerichtet und tragen kein Insolvenzrisiko. Ihre Macht ist der des Steuergesetzgebers vergleichbar, denn Beitragserhöhungen beschließen sie selbst. Das ist Ausübung von Hoheitsgewalt der stärksten Kategorie. Hier paßt der Topos „Wettbewerb“ überhaupt nicht. Von Zwangsabgaben lebende Körperschaften des öffentlichen Rechts können untereinander nicht Wettbewerber sein. Da Seehofer sich aber durchsetzte, wurde der „Wettbewerb“ – wie schon Jens Jessen (JF 16/06) treffend darlegt – nur „simuliert“, der Wettbewerb wurde zur „Chimäre“. Die Folgen waren verheerend. Plötzlich boten die Krankenkassen unterschiedliche Leistungen an. Wer für seine Kasse die „falsche Krankheit“ hat, bekommt nichts, bei einer anderen Kasse wäre er versichert. Der Versicherungsschutz wurde zum Glücksspiel. Das war die eine Seite. Noch weit schlimmer aber war die aus der „Wettbewerbsidee“ zwingend folgende Geldverschwendung in jährlicher Milliardenhöhe. Nur um gegeneinander anzutreten, steckten die Krankenkassen unter Verstoß gegen ihre eigentlichen gesetzlichen Aufgaben erhebliche Teile des Beitragsaufkommens zur Freude der Medien nicht mehr in die Krankenversorgung, sondern in die Werbung (Fernsehsendungen, Hochglanzbroschüren, Telefonwerbung, Hauszeitschriften, Kundenbriefe etc.). Diese Werbeaufwendungen sind Mitursache für die steigenden Beitragssätze der Krankenkassen. Kaum hatte Seehofer den Damm eingerissen, zeigten sich die Folgen. Durch enorme Zweckentfremdung von Beitragsgeldern für Werbezwecke gelang es bestimmten Kassen, andere Kassen im Wettbewerb zu überflügeln. Sie warben ihnen junge und gesunde Mitglieder ab und konnten deshalb auch niedrigere Beitragssätze anbieten. An das Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb sind sie dabei nicht gebunden. Die im Wettbewerb unterlegenen Kassen, insbesondere die AOK, kamen in finanzielle Bedrängnis und riefen bei Minister Seehofer um Hilfe. Dieser erkannte scharfsinnig, daß Wettbewerb zwar sein müsse, aber „natürlich“ keine Folgen für denjenigen haben darf, der im Wettbewerb unterliegt: Das wäre nicht „sozial“. Die Folgen jedes Wettbewerbs darf es nur in der freien Wirtschaft geben, dort mag der Verlierer „pleite gehen“. Nicht so in der gesetzlichen Krankenversicherung: Die erfüllt öffentliche Aufgaben; auch die AOK muß leben und tragbare Beitragssätze bieten. Also erfand Seehofer den „Risikostrukturausgleich“ (RSA): Die Gewinner des Wettbewerbs müssen nunmehr den Verlierern den Wettbewerbsschaden ersetzen. Seitdem fließen alljährlich Milliarden Euro – allein im Jahre 2004 sage und schreibe 13,6 Milliarden Euro – in einem ausgefuchsten Verteilungsmechanismus von den „Gewinnerkassen“ über einen Ausgleichsfonds an die „Verliererkassen“. Wer eine andere Kasse mit Wettbewerbsaufwand im „Markt“ (es ist keiner) besiegt, muß dem Verlierer wie ein Übeltäter aus einer unerlaubten Handlung den Schaden ersetzen: ein sinnloses Nullsummenspiel, das zum Schaden der Kranken Milliarden von Beitragsgeldern wie in einem Strudel verschlingt. Wie kompliziert und kostenträchtig eine solche Umverteilung unter 250 Körperschaften ist, kann man sich denken. Das Bundesverfassungsgericht hat diesen Risikostrukturausgleich zwar verfassungsrechtlich gebilligt, weil die öffentlich-rechtliche Aufgabe aller Kassen zu betonen war. Mit dem ganzen „Scheinwettbewerb“ und seinem Sinn oder Unsinn hatte es sich indessen nicht zu befassen. Eine weitere Steigerung dieses Widersinns ist zu erwarten, wenn, wie geplant, „RSA“ zu einem krankheitsbezogenen „Morbi-RSA“ weiterentwickelt wird. Eines aber hat Seehofer übersehen: Der Risikostrukturausgleich hat zwangsläufig einen vorher nicht vorhandenen Finanzverbund aller angeblich so selbständigen Krankenkassen geschaffen und damit deren Organisation entscheidend verändert: Die Einheitskasse ist in der Grundstruktur – nach außen wie der Leib der Seeschlange im Wasser noch unsichtbar – schon Realität. Sie zeigt aber „über Wasser“ weiterhin 250 „Köpfe“, die um ihr Leben und die Posten ihrer Vorstände und Mitarbeiter kämpfen. Das Ganze ist an Absurdität, aber auch an Gemeinheit gegenüber den Beitragszahlern nicht zu übertreffen. Durch den über den Risikostrukturausgleich geschaffenen Verbund, welcher die 250 Köpfe einer gemeinsamen Finanzstruktur zuordnet, besorgt jede der 250 Kassen mit jeder Entscheidung gleichzeitig die Geschäfte anderer Kassen. Jede Kasse greift der anderen in die Tasche und regiert bei ihr mit. Finanzielle „Selbständigkeit“ ist nicht mehr gegeben, in der privaten Wirtschaft würde ein solch widersinniges Gebilde keinen Monat bestehen. Es fällt auf, daß die überholte Struktur der gesetzlichen Krankenkassen, das den Risikostrukturausgleich auslösende „Wettbewerbsmodell“ und die überhöhten Bezüge ihrer Mitarbeiter von der Politik nicht aufgegriffen werden. Die Ursache liegt auf der Hand: Der Bundestag besteht überwiegend aus Angehörigen des öffentlichen Dienstes, man ist unter sich. Niemand wagt, diesen machtvollen Staat im Staate mit fünfzig Millionen „Einwohnern“ gegen die zu erwartenden Widerstände zu reformieren. Auch gibt es Querverbindungen zwischen der Politik und den Krankenkassenvorständen. Genau hier aber muß eingesetzt werden, auch wenn man nicht so weit gehen muß wie Friedrich Wilhelm I. von Preußen (1713-1740): Dieser stellte bei seinem Amtsantritt fest, daß der Staat infolge Mißwirtschaft seines Vaters finanziell an die Wand gefahren war: Auf der Stelle entließ er einen großen Teil seiner Höflinge und baute mit dem Rest eine schlagkräftige, hocheffiziente Verwaltung auf. Die Hauptaufgabe geht also dahin, die Kleinstaaterei im Bereich der gesetzlichen Krankenkassen zu beenden und diese zu einer Bundeskrankenkasse zusammenzufassen. Das ist nicht einfach und im Hinblick auf Rechtspositionen der Mitarbeiter mit Kosten verbunden. Auch muß es eine angemessene Übergangszeit geben. Einen anderen Weg gibt es aber nicht. Ein falsch organisiertes System kann niemand sanieren. ……………………………. Der Bundestag besteht überwiegend aus Angehörigen des öffentlichen Dienstes, man ist unter sich. Niemand wagt, diesen machtvollen Staat im Staate der GKV mit fünfzig Millionen „Einwohnern“ gegen die zu erwartenden Widerstände zu reformieren. ……………………………. Absurd ist die Forderung der SPD, auch noch die privaten Krankenversicherungen in den „Risikostrukturausgleich“ der gesetzlichen Krankenkassen mit einzubeziehen. Da gibt es etwa acht Millionen Menschen in Deutschland, welche in Eigenverantwortung mit Beiträgen aus versteuertem Einkommen für ihre Gesundheit sorgen, den Staat weder brauchen noch in Anspruch nehmen. Dies entspricht dem Subsidiaritätsprinzip, welches besagt, daß der Staat nur dort eingreifen darf, wo es notwendig ist. Den privaten Krankenversicherungen bzw. ihren Mitgliedern Sonderabgaben aufzuerlegen, weil sie sich angeblich nicht „solidarisch“ mit den gesetzlichen Krankenversicherungen verhalten, verstößt auch gegen das Grundgesetz. Das Bundesverfassungsgericht hat längst entschieden, daß außerhalb des Steuerrechts Sonderabgaben verfassungswidrig sind. Auch private Versicherungsgemeinschaften sind Solidargemeinschaften. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Nach dem Subsidiaritätsprinzip muß die Reform dahin gehen, den Sektor der privaten Krankenversicherung auszuweiten und die gesetzliche Pflichtversicherung auf diejenigen Bevölkerungskreise zu beschränken, die staatliches Eingreifen nötig haben. Selbstverantwortung muß staatlicher Fürsorge vorgehen, die immer auch Bevormundung ist. Wenn die Politik sich zunächst einmal diesen auf der Hand liegenden Mißständen zuwendete, wäre die entscheidende Grundlage zur Sanierung der gesetzlichen Krankenversicherung geschaffen. Dann wird sich zeigen, welche weiteren Maßnahmen erforderlich sind, um die Probleme zu lösen, die durch die demographische Entwicklung ausgelöst worden sind. Dazu gehören Stichworte wie: die Einführung eines Selbstbehaltes zur Eliminierung von Millionen Bagatellfällen, die Begrenzung der Zuwanderung in unsere Sozialsysteme, die Bevorzugung türkischer Versicherter durch Einbeziehung ihrer Großfamilien in der Türkei und die massenhafte und rechtswidrige Abtreibung ungeborener Kinder durch die Krankenkassen. Dr. Wolfgang Philipp ist Rechtsanwalt in Mannheim. Im Forum schrieb er zuletzt über das Wahlrecht in Deutschland (JF 18/05).