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Ist es zu hoch gegriffen, von einem lateinamerikanischen Schicksalsjahr 2006 zu sprechen, wenn von den noch anstehenden zehn Präsidentschafts- und Parlamentswahlen zwischen der Karibik und Feuerland (Costa Rica, Peru, Mexiko, Brasilien, Ecuador, Nicaragua, Venezuela) die Rede ist? Droht der von Simón Bolivar bereits vor über 200 Jahren skizzierte „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ das Gesicht des südamerikanischen Kontinents nachhaltig zu verändern? Werden die aus Castros Schatten längst herausgetretenen Links-populisten vom Schlage eines ebenso militanten wie kunstbeflissenen Feingeistes Hugo Chávez, der am ersten Dezembersonntag 2005 mit einem fulminanten Sieg die Parlamentswahlen in Venezuela für sich entschied oder des charismatischen brasilianischen Staatspräsidenten Lula da Silva, der die Wahlen noch vor sich hat, der Region ein neues Profil geben? Meint es der Aymara-Indio Evo Morales wirklich ernst mit dem, was er als neuer bolivianischer Präsident angekündigt hat? Wird es gar – wie von einigen Kritikern befürchtet – zu neuen sozialen Verwerfungen kommen, zu grenzüberschreitender politischer Instabilität , in der unter der Losung „Kampf dem global organisierten Kapitalismus“ neue „Anti-Yankee“-Koalitionen dem ohnehin äußerst sensiblen ökonomischen Gleichgewicht der Region die Balance nehmen? Zwischen Anti-Bush- Rhetorik und Pragmatismus Fragen über Fragen, die von Lateinamerika- Experten unterschiedlicher gar nicht beantwortet werden könnten. Während die einen das Schreckgespenst eines gesellschaftspolitischen Chaos anhand zweifelhafter Fakten als unausweichlich beschwören, wiegeln andere ab. Der Direktor des Hamburger Instituts für Iberoamerika-Kunde (IIK), Klaus Bodemer: „Das alles ist maßlos übertrieben.“ Man müsse zwischen der massiven Anti-Bush-Rhetorik und dem Pragmatismus in Politik und Wirtschaft der südamerikanischen Länder zu unterscheiden wissen. Angesichts der fragilen sozioökonomischen Verhältnisse wird es vor allem darauf ankommen, die politischen Probleme innerhalb der dafür vorgesehenen Institutionen zu lösen und nicht auf der Straße oder gar im Untergrund. Ein Negativbeispiel bot in den letzten fünf Jahren Bolivien, das gerade eine Präsidentschaftswahl hinter sich hat. Und damit hoffentlich auch die ständigen Streiks, Unruhen und Demonstrationen. Die Wahl – will man den abendlichen Bar-Gesprächen im „Camino Real“ in La Paz Bedeutung beimessen – werfe vor allem Fragen nach dem Bekleidungsverständnis des neuen Präsidenten auf. Der habe zwar zwei Kinder aber nicht die dazu gehörigen Mütter, hält es weder mit der Kirche noch mit der Ehe und zog bei seinen Antrittsbesuchen in Europa und Asien bei Königen, Präsidenten und Regierungschefs nicht einmal seine dicke „chompa“ aus – einen quergestreiften Pullover aus heimischer Alpakawolle, von den Indiofrauen handgestrickt. Eine Krawatte lehne er ohnehin ab, weil er die Mehrheit des Volkes vertrete. Die Mehrheit der 3,6 Millionen Bolivianer stellen mit fast 70 Prozent verarmte – krawattenlose Indios. 18 Prozent zählen zu den „Weißen“, die bislang an der Spitze des Landes standen und sich als „Elite“ sehen, den Rest machen die Mestizen aus. Der lateinamerikanische Wahlmarathon begann mit der Parlamentswahl in Venezuela am 4. Dezember des Vorjahres. Der 51jährige Wahlsieger, Militärwissenschaftler, Hobbypoet, Baseballspieler und sozialistische Schwärmer, Hugo Chávez, der zeitweise im Gefängnis saß, sieht sich seit dem 2. Februar 1999 als „Retter der Nation“ (siehe Stichwort-Kasten). Offiziell heißt es: „Das war die Stunde des Volkes, die Stunde der Stimme der Nation“. Die aber hörte sich bald ganz anders an. Nach drei Jahren sollte die „größte Nervensäge Lateinamerikas“ (Der Spiegel) vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen und sozialen Krise des Landes und nach Massenprotesten, die von einem Bündnis von Gewerkschaften, der Wirtschaft, der katholischen Kirche und der vormaligen Regierungspartei getragen wurden, weggeputscht werden. Doch die Sache ging schief. Ende des Jahres stellt sich Präsident Chávez zur Wiederwahl. Der Siegessichere taxiert seine Amtszeit bis zum Jahr 2030. Morales‘ Neo-Sozialismus stößt an seine Grenzen Diesen „Tribun“ neosozialistischer Färbung, mit dessen Wirtschaftspolitik die heimischen Unternehmerverbände durchaus leben können, schätzt der so ganz anders geformte bolivianische Amtsbruder Morales als Ratgeber und Freund, möchte jedoch seine politische Nähe nicht allzu medienwirksam werden lassen. Auch wenn er sich noch als Vorkämpfer einer verstaatlichten Grundstoffindustrie, der Gas- und Ölvorkommen im Lande gibt, so bleibt er bereits in der politischen Vieldeutigkeit stecken, wenn er Fakten nennen soll. Im Gegensatz zu Chávez, dessen Vater immerhin Dorfschullehrer war, kommt der Mann im Pullover mit dem breitflächigen, verschmitzten Gesicht und dem buschigen schwarzen Haar als Sohn einer armen Indio-Familie von „ganz unten“. Er konnte die Grundschule nicht beenden, weil er mithelfen mußte, die Familie zu ernähren. Als Steinträger, Minenarbeiter und schließlich als Trompeter auf Marktplätzen schlug sich der heute 46jährige durch, bevor er als Koka-Bauer ein paar Bolivianos mehr verdiente. 1981 trat er der Gewerkschaft bei – vor allem des Fußballspielens wegen, das er großartig beherrschte. Doch sein Aufstieg entwickelte sich zwangsläufig und unaufhaltsam. 1994 wurde er Führer der Vereinigung der Koka-Bauern, drei Jahre später zum ersten Mal ins Parlament gewählt und 1999 gründete er sein „Movimiento al Socialismo“ (MAS). Im Jahr 2002 unterlag er zwar noch knapp bei der Präsidentenwahl dem konservativen Amtsinhaber Gonzalo Sánchez de Lozada, der wenig später ins Exil in die USA ging. Dafür fuhr er diesmal mehr als 53 Prozent ein. Morales, der den Kokabauern den Anbau der Pflanze nicht mehr verbieten will („Man kann die Bauern nicht kriminalisieren, sie müssen schließlich ihre Familien ernähren können“) war lange genug von den „Amis“ als „Drogenpolitiker“ verunglimpft worden, wohl wissend, daß Koka-Tee und Kokain nicht in den gleichen Topf geworfen werden können. „Wenn die Essenz von Koka-Blättern für Coca-Cola verwendet wird, andererseits die USA unserem Land Handelsprivilegien im Gegenzug für repressive Drogenpolitik gewähren, dann kann man sich nur an den Kopf fassen“, dozierte Evo im Parlament. Natürlich hat auch er Koka angepflanzt, Koka ist ein Teil des Alltags der Indios im Hochland der Anden. Die von Presidente Morales angedrohte grundsätzliche Änderung der Rohstoffpolitik hat eher seine Nachbarn, weniger die USA verschreckt. Die Ausbeutung der bolivianischen (Gas-) Energievorräte in staatlicher Regie soll die Basis einer neuen ökonomischen Entwicklung sein, um Not und Armut im Lande zu überwinden. Nur ohne Kooperation mit den Nachbarn, die dringend mehr Energie benötigen, geht das nicht. Und so stößt der kompromißlose Neo-Sozialismus der MAS schnell an seine Grenzen. Vor allem an die nach Brasilien. Hier regiert der charismatische Präsident Brasiliens, Lula da Silva. Ende Oktober 2002 erhielt er mit 52,7 Millionen Stimmen das beste Ergebnis, das bei Präsidentschaftswahlen in Brasilien je erzielt worden ist. Im Oktober wird sich der ehemalige Schuhputzer, Bote und ausgebildete Metallarbeiter, der sich in einer Abendschule fortbildete, abermals zur Wahl stellen. Da Silva zählt zum „politischen Urgestein“ Lateinamerikas: ausgleichend, fair und dennoch hartnäckig in der Durchsetzung seiner sozialökonomischen Ziele. Ein Sozialist für das Machbare. Seinen Freund Morales unterstützte er im Wahlkampf ohne Wenn und Aber, doch ohne sich des Verdachts auszusetzen, in fremden Töpfen eine eigene Suppe kochen zu wollen. Denn will Morales tatsächlich die Verstaatlichung der Energiewirtschaft durchsetzen, trifft er ganz besonders Brasilien. Der staatliche Ölkonzern Petrobras ist nämlich der größte „Multi“ im bolivianischen Armenhaus und erwirtschaftet fast ein Viertel des Bruttoinlandsprodukts. Durch die Gas-Pipelines zwischen beiden Staaten – vom Petro-Multi finanziert – fließt der Brennstoff nach Sao Paulo. Nicht zufällig setzt Brasilien auch verstärkt auf Sprit aus Zuckerrohr. Nicht nur wegen der steigenden Benzinpreise hat sich die neue Technologie in kürzester Zeit durchgesetzt. Ethanol hat gute Chancen, künftig einer der wichtigsten Benzin-Ersatzstoffe zu werden. Auf der anderen Seite muß sich auch da Silva mit den heimischen „Zuckerbaronen“ auseinandersetzen, die staatliche Subventionen mit der Drohung einfordern, andernfalls die Ernten auf den internationalen Markt zu werfen. Doch an seiner Wiederwahl haben nicht nur alle in der Region, sondern auch die USA und Europa Interesse. Selbst die Weltbank zögert nicht, dem Realsozialisten gute Zeugnisse auszustellen. Und dann ist da noch Chile, der andere bolivianische Nachbar. Das Land – mit Brasilien ein zweiter ökonomischer Stabilitätsfaktor, ein sogenanntes „Ankerland“ – das sicheren Halt verspricht, hat sich mit dem Sieg der 54jährigen energischen und ebenso einfühlsamen Kinderärztin Michelle Bachelet zum ersten Mal eine Frau auf den Präsidenenstuhl setzen können. Und das mit einer Mehrheit von 53 Prozent der Stimmen. „Ich vereinige alle Todsünden auf mich“, läßt sie zwei Journalisten in ihrer Biographie schreiben. Daß sie drei Kinder von verschiedenen Vätern großgezogen und einen Strich unter die derzeitige Ehe gezogen hat, ist kein Geheimnis. Auch nicht ihr zwangsläufig gespaltenes Verhältnis zur katholischen Kirche. Als die noch die grausame Militärdiktatur segnete, wurden ihr Vater – ein ehemaliger Luftwaffengeneral – zu Tode gefoltert, ihre Mutter und sie in den Kellern der Geheimpolizei ebenso behandelt, doch dann freigelassen. Sie emigrierten in die damalige DDR. „Von so einem Chile habe ich immer geträumt“ Michelle Bachelet lernte mit der ihr eigenen Hartnäckigkeit exzellent Deutsch und studierte an der Berliner Humboldt-Universität Medizin. Als Gesundheits- und Verteidigungsministerin des scheidenden Präsidenten Ricardo Lagos bewies sie Reformfreudigkeit und Durchsetzungskraft. Ihr Sieg brachte nicht nur die erste Frau Lateinamerikas auf den Präsidentenstuhl, sondern verstärkt auch die „Linksfraktion“ in der Region. Doch anders als den meisten ihrer parteipolitischen Freunde geht es ihr nicht um eine ideologische Vormachtstellung in der Welt des iberoamerikanischen Sozialismus fernab der verquasten kommunistischen Castro-Lehre. Sie strebt weder eine politische noch eine ökonomische Revolution, bestenfalls eine kulturelle an. Bachelet geht es vor allem um eine weitere Stärkung der wirtschaftlichen Basis im Lande, um Armut und Not besser bekämpfen zu können. „Von so einem Chile habe ich immer geträumt“, hatte Bachelet dazu in ihrer Biographie erklärt. Venezuelas und Brasiliens Präsidenten, Chávez und da Silva: Castros Schatten hinter sich gelassen Foto: picture-alliance DPA Stichwort: Hugo Chávez Für seine Anhänger ist er der „Verteidiger der Armen“. Ein Revolutionär, der die Herrschaft des Kapitals brechen und den Reichtum gleichmäßiger verteilen wolle. Seine Gegner wiederum bezichtigen Chávez eines autoritären Regierungsstils, der unter dem „Deckmantel der Demokratie“ den kubanischen Kommunismus nachzuahmen versuche. Seinen „Kampf“ finanziert Chávez über den Ölhandel. Freunde, wie Kubas Fidel Castro oder Boliviens Evo Morales, bekommen das Öl zum Vorzugspreis. Chávez‘ Putsch im Jahr 1992 scheiterte. Er kam in Haft und wurde nach zwei Jahren begnadigt. 1998 gewann er die Präsidentschaftswahl (56 Prozent). Im Jahr 2000 wurde Chávez mit knapp 60 Prozent im Amt bestätigt. Infolge des Putsches wurde er am 12. April 2002 inhaftiert und kehrte nach seiner Befreiung am15. April in sein Amt zurück. Südamerika: Kontinent der fragilen sozioökonomischen Verhältnisse

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