Ich habe einen Mord begangen“, sagt Marie-Anne Behrmann der JUNGEN FREIHEIT. „Keiner hat mich dazu gedrängt oder beraten. Die Entscheidung lag damals alleine bei mir – und gerade das ist ja das Schlimme.“ Die heute siebzigjährige Frau spricht offen über ihre Abtreibung im Jahr 1966. Aber das war nicht immer so: „Es hat Jahrzehnte gedauert, bis ich das alles aufgearbeitet habe“, erzählt sie. „Ich habe erst jetzt, nach etwa vierzig Jahren begriffen, daß ich einen Menschen umgebracht habe.“ In Deutschland wurden laut Statistischem Bundesamt im Jahr 2005 offiziell 124.023 Kinder abgetrieben.
Dies ist zwar ein Rückgang um 4,3 Prozent gegenüber 2004 (129.650), doch sinkt die Zahl der gebärfähigen Frauen zwischen 15 und 45 Jahren ebenfalls jährlich. Die Abtreibungen bei unter 15jährigen sind dagegen seit 1996 um achtzig Prozent gestiegen, bei den 15- bis 18jährigen im gleichen Zeitraum ebenfalls um 51 Prozent. Die meisten Abtreibungen ließen im vergangenen Jahr Frauen im Alter zwischen 18 und 24 Jahren vornehmen (38.377). Soweit die offiziellen Zahlen. Nach Einschätzung des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BIB) in Wiesbaden werden aber nur zirka 60 Prozent der durchgeführten Abtreibungen offiziell erfaßt. Aus diesem Grunde spricht die Bürgerinitiative Aktion Lebensrecht für Alle (ALfA) auch von insgesamt 400.000 jährlichen Abtreibungen in Deutschland. Laut Alan Gutmacher Institute in New York wird ungefähr jede vierte Schwangerschaft weltweit abgebrochen, jährlich sind das 46 Millionen Abtreibungen. Frauenfeindlich statt frauenfreundlich Seit der Neuregelung des Abtreibungsgesetzes im Jahr 1996 sind in Deutschland dem Statistischen Bundesamt zufolge etwa 1,3 Millionen Kinder vorgeburtlich getötet worden. Manfred Spieker, Professor für katholische Theologie an der Universität Osnabrück, geht sogar davon aus, daß „seit der faktischen Freigabe der Abtreibung im Jahr 1974 rund acht Millionen Kinder getötet wurden“. Marie-Anne Behrmann könne und wolle ihre Abtreibung vor vierzig Jahren nicht verteidigen. Und trotzdem will sie ihre Geschichte erzählen. Denn sie weiß, wie sehr und wie lange Frauen unter den Folgen leiden können. Behrmann hatte vor dem Schwangerschaftsabbruch einen schweren Bandscheibenvorfall erlitten, hatte aber während der jahrelang dauernden Behandlungen des Rückens zwei Kinder bekommen – was die Rückenschmerzen noch verstärkte. Als sich dann das dritte Kind ankündigte, war sie physisch völlig am Ende. Ihr Gynäkologe riet ihr von einer Abtreibung ab, denn die Schwangerschaft verlief normal. Auch ihr Mann hätte nichts gegen ein drittes Kind gehabt, aber Behrmann entschied sich trotzdem gegen das Kind. Nach der Abtreibung ging es ihr physisch und psychisch immer schlechter. „Damals habe ich das alles auf die Pille geschoben. Ich hatte ja keine Ahnung, daß die Depressionen nach Jahren immer noch von der Abtreibung stammen könnten“, sagt sie. Das tote Kind verfolgte sie über die ganzen Jahre in allem, was sie tat. „Ich überlegte immer, in welcher Phase der Entwicklung das Kind momentan wäre. Zum Beispiel, daß ich es jetzt auf dem Fahrrad mitnehmen könnte“, sagt Behrmann. „Erst als ich gläubig wurde und bei Gott Vergebung erfuhr, habe ich damit zumindest zum Teil abschließen können“, fährt sie fort. Auch wenn vierzig Jahre seit ihrer Abtreibung vergangen sind, glaubt Behrmann nicht, daß Frauen heute besser über die negativen Folgen und die Konsequenzen eines Schwangerschaftsabbruchs aufgeklärt werden. „Die Beratungsstelle Pro Familia zum Beispiel berät ja oft zur Abtreibung“, sagt Behrmann. Der Aspekt, daß Frauen an einer Abtreibung leiden könnten, hat bislang wenig mediale Aufmerksamkeit bekommen. Durch die Emanzipation ist Abtreibung zum „guten Recht jeder Frau“ geworden. „Die 68er-Generation und die Ideologie des Feminismus haben Abtreibung zu etwas Frauenfreundlichem gemacht“, erklärt Martina Kempf von der Lebensrechtsinitiative ALfA. ALfA ist mit gut 10.000 Mitgliedern die größte Lebensrechtsinitiative in Deutschland und hilft Frauen, sich in scheinbar ausweglosen Situationen für das Kind zu entscheiden. Konkret bietet ALfA über ihre zahlreichen Landes- und Regionalverbände Beratungsgespräche, finanzielle Hilfe zum Beispiel bei ausstehenden Mietzahlungen, materielle Hilfe durch Stellung von Babykleidung oder personelle Hilfe bei Behördengängen. Die Arbeit wird durch Spenden und Patenschaften finanziert. Nicht alles, was die Emanzipation mit sich brachte, war auch gut für die Frau. Vieles war sogar schädlich für sie, schreibt auch Eva Herman in ihrem aktuellen und umstrittenen Buch „Das Eva-Prinzip“. Sie beschreibt den Kampf für die Legalisierung von Abtreibung sogar als „ein zutiefst bedrohliches Moment der Frauenbewegung“. Schließlich banalisiere die Bewegung Abtreibung zu einer selbstverständlichen Kleinigkeit. Die Fragen nach den Folgen seien vollkommen in den Hintergrund gedrängt worden. Negative Erfahrungen mit Abtreibung zu verbinden, galt lange Zeit schlichtweg als politisch unkorrekt. Weil Frauen deshalb für ihr Leiden nach der Abtreibung oft keine Hilfe fanden, gründete Christa Heinel 1992 die Selbsthilfegruppe Rahel. Diese Organisation hilft Frauen durch Beratungsangebote, ihre traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten und ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Zu den wichtigsten Aufgaben von Rahel gehört die Aufklärung über die Folgen des Schwangerschaftsabbruchs – über das sogenannte „Post-Abortion-Syndrom“ (PAS). Die Symptome reichen laut Rahel von Depressionen über Selbstmordgedanken bis hin zu physischen Krankheiten. Um Frauen helfen zu können, bietet der ausschließlich von Spenden lebende Verein ein umfangreiches Angebot an Informationen im Internet an. Zusätzlich ist dort ein Netzforum eingerichtet, wo Frauen ihre Erfahrungen austauschen. Hier warnen viele Frauen vor Abtreibungen, andere suchen selber Hilfe und Anschluß. Dabei geht es bei Rahel nicht darum, das Verbrechen gegen das Leben herunterzuspielen, sondern darum, den Frauen zu helfen, die diesen Fehler begangen haben und darunter jetzt leiden. Wenn Frauen rechtzeitig über die Konsequenzen eines Schwangerschaftsabbruchs aufgeklärt würden, könnten viele Abtreibungen verhindert werden. Die Vorsitzende des Vereins Gisela Koch und ihr Ehemann Dieter Koch, der gleichzeitig auch Geschäftsführer von Rahel ist, betonen die grundlegende Bedeutung von christlichen Werten und Barmherzigkeit bei der Arbeit mit den traumatisierten und oft mit Selbsthaß erfüllten Frauen. „Denn ohne der Vergebung von Jesus Christus überwinden viele Frauen ihre Vergangenheit nicht“, betont Dieter Koch. Aus eigener Erfahrung wissen die Kochs, welche schlimmen Folgen eine Abtreibung haben kann. Denn auch Gisela Koch hat vor dreißig Jahren ihr drittes Kind abgetrieben. „Fünfzehn Jahre lang hatte ich schleichende Depressionen. Wie oft sagte ich, daß ich nicht mehr lebe, sondern gelebt werde“, resümiert Gisela Koch. „Die Sehnsucht nach meinem Kind lähmte mich völlig. Auch unsere Ehe war am Ende.“ Eine Lebensbeichte bei einem Seelsorger ihrer Gemeinde habe ihr endlich geholfen. „Als ich ihm die Abtreibung beichtete, sagte er mir, daß ich getötet habe. Erst dann ist es mir wirklich bewußt geworden.“ Am 16. August berichtete das Magazin „Stern TV“ über seelische Folgeschäden nach Abtreibungen. In der Sendung wurde auch die Organisation Rahel vorgestellt. Nach der Publizität, die die Sendung dem Thema bot, verdoppelte sich beinahe die monatliche Besucherzahl auf den Rahel-Internetseiten. Das spreche eindeutig für den Bedarf solcher Arbeit, erklärt Dieter Koch. Den Ungeborenen eine Stimme geben Und dennoch: Bei einem Schwangerschaftsabbruch geht es in erster Linie immer auch um das getötete Kind – nicht allein um die Mutter. Aus diesem Grunde gibt es in Deutschland Lebensrechtorganisationen, die den ungeborenen Kindern eine Stimme verleihen wollen. Als eine dieser Organisationen wurde der Bundesverband Lebensrecht (BVL) zunächst als Kölner Kontakt-Kreis gegründet (1988). Seit 2001 gilt der BVL bundesweit als Dachverband von zwölf Lebensrechtorganisationen, die für einen umfassenden Schutz des menschlichen Lebens von der Zeugung bis zum natürlichen Tod plädieren. Im Gegensatz zur Rahel, die auch Mitglied im Dachverband BVL ist, agieren die meisten Initiativen gegen Abtreibung nicht aus der Perspektive der Frau, sondern aus der Sicht des ungeborenen Kindes. „Das größte Problem, mit dem wir ständig in der Gesellschaft konfrontiert werden, ist ein mangelndes Bewußtsein dafür, daß ein Mensch auch bereits im Mutterleib ein Mensch ist“, betont Claudia Kaminski, die Vorsitzende des BVL und der Organisation ALfA, gegenüber der JUNGEN FREIHEIT. „Auch das vermeintliche Selbstbestimmungsrecht der Frau über das Leben des Kindes bereitet uns Probleme, die wir als Verein ständig überwinden müssen.“ Vor diesem Hintergrund gehört es zu den wichtigsten Aufgaben des Verbands, Menschen über Abtreibung aufzuklären und das Thema überhaupt in die Öffentlichkeit zu bringen. Entsprechend organisiert der BVL jedes Jahr unter anderem die „1.000 Kreuze für das Leben“-Demonstration in Berlin. Die tausend dort getragenen Holzkreuze sollen die tausend Kinder repräsentieren, die pro Werktag in Deutschland abgetrieben werden. Auch dieses Jahr will der BVL mit der Demonstration am 23. September ein „deutliches Zeichen für einen besseren Schutz des Lebens ungeborener Kinder setzen“. Im Vergleich zu den vielen eher kleinen Lebensrechtsinitiativen ist neben ALfA die Organisation Christdemokraten für das Leben (CDL) von größerer Bedeutung. Auch sie ist Mitglied im Dachverband BVL. Wie der Name bereits verrät, wurde CDL 1985 durch Parteimitglieder der CDU/CSU gegründet und ist die einzige auch politisch und parlamentarisch verankerte Initiative für das Lebensrecht in Deutschland. Ihr Bundesvorsitzender ist der CDU-Politiker und Bundestagsabgeordnete Hubert Hüppe. Abtreibungen sind nicht nur tödlich für das Kind und schädlich für die Mutter, sondern kosten den Steuerzahler auch erhebliche Summen. Laut einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage Hüppes zur staatlichen Finanzierung von Abtreibungen haben die Bundesländer seit 1996 den Krankenkassen über 320 Millionen Euro für durchgeführte Abtreibungen erstattet. Anders als Abtreibungen nach einer medizinischen oder kriminologischen Indikation gelten die nach der „Beratungsregelung“ vorgenommenen Abtreibungen immer noch als „rechtswidrig“. Sie bleiben jedoch straffrei, solange die Frau einen Beratungsschein vorlegen kann. Somit duldet der Staat nicht nur die Verletzung seiner Gesetze gegen Abtreibung, sondern subventioniert diese mit jeweils 308,94 Euro. Damit macht sich der Staat nicht zuletzt selbst an der alarmierenden demographischen Entwicklung in Deutschland schuldig. Foto: Schwangerenberatungs-Verein Donum Vitae: Wer im Dienst der katholischen Kirche steht, darf nicht für Donum Vitae tätig sein Aktion Lebensrecht für alle (ALfA), Tel.: 08 21 / 51 20 31, www.alfa-ev.de ; Rahel e.V., Tel.: 0 72 42 / 95 37 80, www.rahel-ev.de ; Bundesverband Lebensrecht (BVL), Tel.: 030 / 44 05 88 66, www.bv-lebensrecht.de , Christdemokraten für das Leben (CDL), Tel.: 02 51 / 6 28 51 60, www.cdl-online.de . Stichwort: Post-Abortion-Syndrom (PAS) PAS wird als eine Variante der „Posttraumatischen Belastungsstörungen“ gesehen, die bislang kaum untersucht oder statistisch erfaßt wurde. PAS gilt bisher nicht als allgemein anerkannte Diagnose. Einige US-amerikanische Studien gehen davon aus, daß zwölf bis 15 Prozent aller Frauen, die abgetrieben haben, an diesem Syndrom erkranken. Laut der Organisation Rahel leiden aber zwei Drittel der betroffenen Frauen daran. Zu den Symptomen gehören unter anderem Unfruchtbarkeit, Angstzustände, Depressionen, Selbstmordgedanken, Sexualstörungen, Migräne und Schlafstörungen.