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Deutschland schrumpft und schrumpft

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Die Geburtenrate in Mitteldeutschland lag im Jahr 1990 bei 0,7 Kindern pro Frau. Während und nach der Wende sackte die Gebärfreudigkeit auf das Niveau des Dreißigjährigen Krieges ab. Bevölkerungswissenschaftler pflegen zu scherzen, nur die Geburtenrate des Vatikans sei noch niedriger. Es ist Galgenhumor – im wahrsten Sinne des Wortes. Der demographische Wandel ist nicht mehr zu stoppen, er ist längst da. Jahrelang haben Politiker die niedrigen Geburtenraten ausgeblendet. Jetzt rächt sich diese Haltung. Trotzdem wird die Lage häufig noch ignoriert. Als Franz Müntefering im Mai beim DGB-Kongreß eine Rede hielt, kam er auch auf die Haushaltslage und den Abbau des Sozialstaats zu sprechen. Bis dahin hatten die Gewerkschafter seine Ausführungen noch mit einem Mindestmaß an Disziplin ertragen. Als der Vizekanzler dann aber den Begriff „demographischer Wandel“ in den Mund nahm, war es aus mit der Zurückhaltung. Müntefering wurde ausgebuht, vor allem von der Verdi-Fankurve. Dieser verpatzte Auftritt des Arbeitsministers vor dem DGB war beispielhaft für einen Teil der deutschen Politik. Wegsehen in Sachen Demographie hat Tradition Das Wegsehen in Sachen Demographie ist eine eher sozialdemokratische Angewohnheit. Albrecht Müller verteidigt noch heute die Renten- und Familienpolitik, die für die gegenwärtige Krise mitverantwortlich ist. Unter Willy Brandt leitete Müller die Planungsabteilung im Kanzleramt. Die Debatte um die Schrumpfung des deutschen Volkes nennt er „absurd“ und „zweitrangig“ Kurzum: „Wir haben kein demographisches Problem.“ Müller, der die Bücher „Machtwahn“ und „Die Reformlüge“ geschrieben hat („Die Demographielüge“ will er sein nächstes Buch nennen), ist sich sicher, daß Kapitalisten dahinterstecken. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erklärte er in einem Streitgespräch mit dem Bevölkerungswissenschaftler Herwig Birg: „Die Demographie wird benutzt. Zum Beispiel von der Versicherungswirtschaft, um das Vertrauen in die gesetzliche Rente zu zerstören.“ Diese Haltung haben bis vor wenigen Jahren führende Vertreter des Staates geteilt. Die frühere Familienministerin Renate Schmidt (SPD), die das Aussterben des deutschen Volks einmal mit „mir wurscht“ kommentiert hatte, ist nur ein Extrembeispiel. Des Ex-Kanzlers Satz, Familienpolitik sei „Gedöns“, ist dagegen schon fast so harmlos wie die peinlichen Beteuerungen von Norbert Blüm, der zwanzig Jahre nach dem Beginn des Geburtenrückgangs noch immer verkündete: „Die Rente ist sicher.“ Und heute? Ulrich Kasparick (SPD) ist Staatssekretär im Ministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Sein Ministerium ist in der Invalidenstraße in Berlin, genau an der Grenze zwischen den beiden früheren Stadthälften. Für ihn sind die Auswirkungen des demographischen Wandels „tagesaktuell“, wenngleich sie „Wurzeln haben, die weit zurückliegen“. Er fragt sich: „Warum diskutieren wir das eigentlich erst heute?“ Schließlich sei schon 1970 die Zahl der Kinder pro Frau unter das existenz-erhaltende Niveau (2,1 Kinder) gefallen. Derzeit liegt die Zahl bei 1,4 Kindern pro Frau. „Ein Stück weit wurde die Entwicklung durch Einwanderungswellen überdeckt.“ Sein Fazit lautet: „Es wäre besser gewesen, wenn wir das schon früher getan hätten.“ Weil das aber nicht geschehen ist, befindet sich Deutschland in einer Abwärtsspirale. Derzeit kommen die geburtenschwachen Jahrgänge in die Familiengründungphase. Kasparick hat Beispiele aus seiner eigenen Familie parat: Sein Bruder hat eine zweijährige Tochter. „In zwanzig Jahren wird sie in der Familiengründungsphase sein“, sagt der Staatssekretär über seine Nichte. Es gibt aber zu wenige Kinder. „Da können Sie heute schon sehen, wie viele potentielle Mütter es dann – in zwanzig Jahren – geben wird.“ Dabei sind die kurzfristigen Auswirkungen noch gar nicht so schlimm. Bis 2020 wird es nur einen geringen Rückgang der Bevölkerungszahl geben. Mitteldeutschland bildet hier eine Ausnahme, weil seit 1990 anderthalb Millionen Menschen fortgezogen sind – ein Trend, der anhält. Nach 2020 wird es ernst. Bis 2050 wird das Problem im ganzen Land immer größer: So sieht die Prognose aus: 450.000 Deutsche wird es dann weniger geben, und zwar Jahr für Jahr. Auch die Struktur des deutschen Volkes (und seiner Gäste) ändert sich: In fünfzig Jahren dürften 37 Prozent aller Bewohner über 60 Jahre alt sein. Die Auswirkungen werden für das Umlagesystem der gesetzlichen Sozialversicherung verheerend sein. Ulrich Kasparick ist ziemlich ratlos und meint: „Wir müssen besser werden im gesamtgesellschaftlichen Dialog. Wir brauchen eine neue Kultur des Dialogs.“ Doch diese Dialogkultur hätte 1970 eingefordert werden müssen, als die Bundesregierung daranging die Überschüsse in der Rentenversicherung an die Rentner (die zufälligerweise auch Wähler sind) zu verteilen. Damals hätten verantwortungsbewußte Politiker sagen sollen: „Laßt uns Reserven anlegen – für schlechte Zeiten.“ Jetzt fürchtet das deutsche Machtkartell den Angriff der Populisten, der Radikalen, der Ausgebooteten und fordert einen Dialog. Der Wiederaufstieg der PDS, die Erfolge von WASG und NPD, die Rütlischule – das sind alles die Vorboten einer wenig „dialogbereiten“ Opposition gegen die kommenden Kürzungen. Auf Deutschland kommen an allen Fronten gewaltige Probleme zu: Es droht ein Engpaß bei den Hochqualifizierten. Schon jetzt klagt beispielsweise die Werftindustrie über zuwenig gute Azubis. Gleichzeitig liegt das Armutsrisiko bei Migranten bei 24 Prozent (bei Deutschen nur vierzehn Prozent). Andere haben sich als Einwanderungsland definiert und Akademiker ins Land geholt. Deutschland hingegen versteht sich als das Sozialamt der Welt. Mit dem Ergebnis, daß die Bundeswehr im Libanon Sozialhilfeempfänger mit deutschem Reisepaß evakuieren muß. Wie kann die Strategie zur Abmilderung des demographischen Wandels aussehen, wenn er nicht aufzuhalten ist? In den neuen Ländern wird es schon in zehn, fünfzehn Jahren zu sehen sein: Der Drang hin zu den Wachstumskernen entvölkert das flache Land. Dresden, Halle, Leipzig, Halle, Jena und natürlich Berlin werden mitsamt ihrem Umland „Zentren der Gravitation“ bilden. Auf dem flachen Land werden dagegen den Kommunen vierzig, fünfzig Prozent der Einnahmen weggebrochen sein. Die Verkehrsinfrastruktur wird darniederliegen. „Der Schülerverkehr ist der Motor des Regionalverkehrs. Warum soll man Dörfer am Netz halten, wenn die Schülerzahlen zurückgehen?“ fragt Kasparick. Der Staat kann das nicht mehr leisten, sagt er. In Brandenburg sind bereits vierzig Schulen zu. In manch einer mitteldeutschen Kommune wird jetzt der letzte Abiturjahrgang ins Leben entlassen – und dann? Weiter als Brandenburg ist Sachsen. Beide Länder wetteifern darum, wer besser auf den demographischen Wandel vorbereitet ist. Im Freistaat sind 800 Schulen seit der Wende geschlossen worden, sagt Ministerpräsident Georg Milbradt entschlossen, wenn das Gespräch auf den demographischen Wandel kommt. Und nach der Schulausbildung gehen die Fleißigsten dahin, wo sie sich die besten Chancen erwarten – in den Westen. „Wir müssen zulegen beim Wettbewerb um Hochqualifizierte“, fordert Kasparick. Kleinlaut fügt er hinzu: „Wir müssen wenigstens zusehen, wie wir einen Teil der Leute im Land behalten.“ Deutsche Mediziner gehen nach England oder Skandinavien. Deutschland streitet um die Vergütung der Leistungen von Medizinern. Viele, die sich jetzt über die hohen Abschlüsse der Ärzte ärgern, werden sich noch wundern, wenn sie im Alter keinen Arzt mehr in ihrer Nähe finden, jedenfalls keinen deutschen. Im Pasewalker Krankenhaus ist jeder dritte Arzt ein Pole oder Tscheche. „Hier besteht akuter Handlungsbedarf“, sagt Kasparick. Optimistischer als der Sozialdemokrat Kasparick gibt sich sein Amtskollege aus dem Ministerium von Ursula von der Leyen (Familie, Senioren, Frauen und Jugend), Hermann Kues (CDU). Der Niedersachse kommt aus einer Ecke, in der eine sehr hohe Geburtenrate gemessen wird. „Junge Regionen haben große Chancen“, frohlockt der katholische Vater von drei Kindern aus dem Landkreis Emsland. Der Staatssekretär möchte nach eigener Aussage nicht mit „austauschbaren Polit-Technokraten“ verwechselt werden. Wenn er jedoch seine „Demographischer-Wandel-Rede“ abspult, dann ist er genau das. Kues verkündet all die frohen Botschaften aus dem Haus von der Leyen, er spult PR-Botschaften seiner Chefin ab wie ein Verkäufer auf dem Hamburger Fischmarkt. Die CDU-Ministerin mit den sieben Kindern arbeitet an einem kinderfreundlicheren Deutschland. Dabei entsteht das Gefühl, von der Leyen wolle das Land so umbauen, daß alle (potentiellen) Eltern in ihre – und zwar ihre ganz persönliche – Schablone passen. Kues lobt das Elterngeld, bei dem auch Väter zwei Monate zu Hause bleiben müssen, damit die Leistung in voller Höhe gezahlt wird. (Was für eine unrealistische Vorstellung vom Berufsleben hat jemand, der glaubt, eine Führungskraft sei so mir nichts, dir nichts acht Wochen entbehrlich?) Kues fordert „berufliche Laufbahnen“, die Frauen den Weg zur Karriere mit Kindern bahnen. Väter dagegen dürften von Arbeitgebern nicht mehr zu Besprechungen um 18 oder um 19 Uhr bestellt werden. Das sei familienfeindlich. Die große Koalition sei auf dem richtigen Weg. Neben dem Elterngeld habe sie die Frühverrentung gestoppt, behauptet Kues. Der Rest seiner Ausführungen sind Politfloskeln aus dem PR-Baukasten für Fortgeschrittene: „Wir brauchen Netzwerke der verläßlichen Hilfe.“ Darin steht sich Kues mit Kasparick in nichts nach. Der forderte „Ideen, die Kreativität freisetzen.“ Sachsens Einwohnerzahl geht seit 1967 zurück Georg Milbradt gehört nicht zu dieser Fraktion. Früh hat sein Land damit begonnen, die rückläufige Bevölkerungsentwicklung zu bedenken. Sachsens Einwohnerzahl geht bereits seit 1967 zurück! 1950 hatte Sachsen 5,7 Millionen Einwohner, 1988 noch knapp fünf Millionen. Jetzt sind es noch 4,3 Millionen. Trotzdem ist das Land noch viel besser dran als Brandenburg oder Mecklenburg-Vorpommern, weil es eine viel höhere Bevölkerungsdichte besitzt. Angesichts des Schrumpfungsprozesses sei „eine Raumordnungspolitik, die auf gleichwertige im Sinne von fast identischen Lebensverhältnissen zielt“ unrealistisch, betont der sächsische Ministerpräsident. Damit greift er eine Äußerung von Bundespräsidenten Horst Köhler aus dem Jahr 2005 auf. Die Linke hatte schon damals getobt, als Köhler diese eigentlich banale Aussage getroffen hatte. Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee (SPD) widerspricht Milbradt daher offen. Eine der entscheidenden Fragen im Zusammenhang mit dem Bevölkerungsschwund für ihn lautet: „Wie erreichen wir die Gleichheit der Lebensverhältnisse?“ Für Tiefensee ist die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse nicht nur ein realistisches Ziel. Es sei ja auch „Grundgesetz-Auftrag“, unterstreicht er gern. Die Lage sei ja besser als ihr Ruf. „Wir müssen davon wegkommen, den demographischen Wandel mit Adjektiven wie ‚katastrophal‘ zu bezeichnen“, findet der Genosse. „Wir müssen die Herausforderung positiv annehmen. Es ist keine Katastrophe, daß sich das Verhältnis Jung-Alt ändert. Es ist keine Katastrophe, wenn eine Stadt statt 50.000 nur noch 20.000 Einwohner hat, daß die Menschen vom Land in die Stadt ziehen.“ Angesprochen auf die wachsende Auswanderung von deutschen Leistungsträgern wiegelt Tiefensee ebenfalls ab. „Wegzug ist nur problematisch, wenn es nicht genug Zuzug gibt. Außerdem wird Deutschland ständig attraktiver – hohe Löhne, gutes Klima, gute Ausbildung und gute Infrastruktur“, so das Fazit des Verkehrsministers. Demographischer Wandel – alles kein Problem? Vier Vertreter der Großen Koalition – vier Meinungen. Verglichen mit dem früheren Leipziger Oberbürgermeister Tiefensee und den beiden Staatssekretären ist der Regierungschef aus Sachsen am nüchternsten: Sachsen hat schon 2000 das Wohnungsneubauprogramm gestoppt. „Wir waren auch schon immer gegen die Eigenheimzulage“, sagt Milbradt. Am 8. November tritt in Sachsen der zweite Demographiegipfel zusammen. Milbradt wird dann wieder seine unerfreuliche Prognose vortragen: „Weniger Einwohner bedeuten weniger Geld und damit weniger Infrastruktur.“ Die Politiker dürfen sich in Zukunft nicht mehr nur Gedanken darüber machen, was in den nächsten fünf Jahren geschieht, sondern in den nächsten zwanzig, dreißig Jahren. „Das ist bisher nicht geschehen“, klagt Milbradt. Zu Recht. Stichwort: Demographischer Wandel in Europa In den kommenden Jahrzehnten wird die Bevölkerung in Europa drastisch sinken. Grund dafür ist, daß in vielen Ländern die Geburtenrate seit geraumer Zeit unter zwei Kindern pro Frau liegt. Am drastischsten sind die Werte in den ehemaligen Ostblockstaaten (1,2 und 1,3 Kinder pro Frau), gefolgt von den südlichen Mittelmeerländern Spanien, Italien und Griechenland mit Werten um 1,3. Deutschland, Österreich und Estland bilden mit 1,4 Kindern das untere Mittelfeld, das von den Beneluxstaaten und Großbritannien (1,6 bis 1,7) übertroffen wird. In den skandinavischen Ländern liegt der Durchschnitt bei 1,8 Kindern, am höchsten in Frankreich mit 1,94 und Irland mit 1,99 Kindern pro Frau.

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