Der Dienstag war der ruhige Tag. Ausschlafen, Frühstücken gehen, irgendwo in die Stadt. Am Abend sammelten wir uns wieder im Büro. Da stand ein Kasten Bier. Es gab Pizza und Würstchen, irgend jemand hatte aufgeräumt, und wir saßen bis in die Nacht in der Redaktion. Ein paar hundert Kilometer weg montierte ein Drucktechniker die Filme für die neue JF, und manchmal stellte ich mir vor, daß er in den Artikeln las und einfach korrigierte, was ihm nicht paßte. Die taz hatte solche Eingriffe durch die Arbeiter der Faust stets geduldet, in Klammern stand dann hinter der Änderung „Sätzer“, mit „ä“, und solcherlei Mitdenken wurde begrüßt als Signal über die eingebildeten Klassengrenzen hinweg. Der „Sätzer“ in Weimar war aber doch eher ein „Setzer“, und Goethes Wirkungsstätte nicht Goethes Geburtsstadt: Weimar erlebte keine fetten Jahre, und Union Druck blühte als seltenes Pflänzchen inmitten eines maroden Industriegebiets, in dem nach der Wende kein Stein auf dem anderen geblieben war. Wer 1994 als Drucker Arbeit hatte, konzentrierte seine Kraft auf den Erhalt des Betriebs, und der Auftrag der JUNGEN FREIHEIT war keine Kleinigkeit, sondern ein regelmäßiges, gutes und zuverlässig eingetaktetes Geschäft. Am 4. Oktober 1994 konnte der Setzer der Union Druckerei in Weimar seine Arbeit jedoch nicht beenden. Um kurz vor Mitternacht stürmten zwei maskierte Antifaschisten in die Werkhalle, und während der Setzer und seine Kollegen in die Mündung einer Pistole starrten, raffte das Kommando aus den Büros und vom Montagetisch zusammen, was an Unterlagen über die JUNGE FREIHEIT bereitlag. Nach fünf Minuten war der Spuk vorbei, und zum ersten Mal fragte sich der Setzer, ob es nicht angebracht sei, einmal in dem zu lesen, was er da druckte. Einige Minuten danach klingelte in Potsdam das Telefon. Dieter Stein ging ran. Ein paar Minuten später wußten auch wir anderen Bescheid: Union Druck in Weimar ist überfallen worden. Zwei Täter haben die Adreßaufkleber aller unserer Abonnenten erbeutet, dazu die Verteilerschlüssel für den Kioskverkauf und einige belichtete Filme für den Druck. Wir waren wie vor den Kopf gestoßen. Uns allen war klar, die JF würde heute nicht mehr fertiggedruckt und in den Versand gebracht werden können. Das war auch nicht mehr wichtig. Probleme existentieller Art standen ins Haus: Würden die Weimarer sich aufgrund des Vorfalls weigern, weiterhin die JF zu drucken? Würden die Abonnenten Drohbriefe erhalten oder andere Einschüchterungen erfahren? Wie viele würden kündigen, welcher Prominente würde, als Leser enttarnt, dem Druck von links nachgeben und sich öffentlich von der JUNGEN FREIHEIT distanzieren? Das waren wichtige Fragen: Jeder Substanzverlust brachte die JF an den Rand des Zusammenbruchs, so etwas wie eine strategische Reserve war noch nicht gebildet: Das Projekt lebte von der Hand in den Mund. Irgendwann nach Mitternacht kam aus Weimar die Meldung, daß man erst weiterdrucken könne, wenn die Geschäftsführung über die Zusammenarbeit mit der JUNGE FREIHEIT eine grundsätzliche Entscheidung getroffen habe. Außerdem brauche man erneut Filme aus dem Belichtungsbüro in Erfurt. Versand der Zeitung zu den Abonnenten sei somit frühestens nach dem Wochenende möglich. Wir berieten. Über den Vorfall in Weimar würde erst in der nächsten Nummer berichtet werden können. Ich selbst beschloß, das Studium Studium sein zu lassen, den Rest der Woche in Potsdam zu bleiben und die Entwicklung der Lage zu verfolgen. In einem war ich mir ganz sicher, und ich teilte diese Überzeugung mit Dieter Stein und den anderen Redakteuren: Die Medien würden diesen Vorfall nicht mehr verschweigen können. Hier war die Pressefreiheit im Kern bedroht, denn einen Raubüberfall auf eine Druckerei, ausgeführt mit dem Ziel, das Erscheinen einer mißliebigen Zeitung zu verhindern, hatte es in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland noch nicht gegeben. Die Ernüchterung kam im Verlauf des nächsten Tags. Dieter Stein hatte noch am frühen Vormittag eine Pressemitteilung abgesetzt. Schon während eines späten Frühstücks warteten wir ständig auf Anrufe von aufgebrachten Journalisten, die der JUNGEN FREIHEIT ihre Solidarität und eine faire Berichterstattung zusichern würden. Aber das Telefon blieb stumm. Statt dessen erhielten wir kurz vor Mittag ein Flugblatt gefaxt, das der thüringische Landesverband der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV) in Weimar verteilen ließ. Die HBV protestierte dagegen, daß die JF in Weimar gedruckt wurde. Das war an sich nichts Aufregendes, solche Proteste, Boykottaufrufe oder Verleumdungspamphlete gehörten für die Redaktion zum Alltag. Aber eine Textstelle im Flugblatt der HBV elektrisierte uns: Der Überfall von vergangener Nacht war bereits erwähnt. Woher wußte die HBV von dem Überfall? Die Öffentlichkeit war weder von der Polizei, noch von der Unions-Druckerei informiert worden, und unsere eigene Pressemitteilung lag erst seit ein paar Stunden vor. Verteilt wurde das Flugblatt jedoch schon seit Bürobeginn. Nachdem also das personelle Netzwerk um die PDS und die Gewerkschaft HBV in Thüringen recherchiert war, setzte Dieter Stein abermals eine Pressemitteilung ab. Wir waren uns sicher: Spätestens jetzt würden die politischen Gegner, würden die Strukturen der DDR-Opposition, die Bürgerrechtler, die in ihrer Tendenz konservative CDU Thüringens und die regionalen und überregionalen bürgerlichen Blätter den Vorfall aufgreifen und für einen Angriff auf den dunkelroten Filz in Weimar nutzen. Aber wieder irrten wir uns. Selbst Anrufe bei befreundeten CDU-Funktionären aus dem Mittelbau in Erfurt brachten keinen Erfolg. Taktische Erwägungen und bürgerliche Feigheit verhinderten selbst eine kleine Anfrage im thüringischen Landtag, und ich erinnere mich an einen Duzfreund aus dem Innenministerium, der am Telefon wörtlich sagte, er halte einen Anruf von mir „zum jetzigen Zeitpunkt für politisch unsensibel“. Mit anderen Worten: Er sah seine Karriere gefährdet, eines simplen Telefongesprächs wegen. Auf diese Weise ernüchternd vergingen die Tage nach dem Überfall. Wir arbeiteten längst an der nächsten JF, aber ohne Schwung und Galgenhumor. Die Atmosphäre war zwiespältig: Der Raubüberfall hatte deutlich gemacht, daß wir nicht an Paranoia litten. Die Bedrohung war für jeden, der die Augen offenhielt, sichtbar geworden, und so hatte der Vorfall klärende Wirkung. Er schreckte unsichere Kantonisten ab und machte jene aufmerksam, denen es nicht um Zustimmung zu den Positionen der JF ging, sondern um das Prinzip der Meinungs- und Pressefreiheit schlechthin. So wichtig und vorteilhaft diese Klärung war, hatte sie dennoch einen Haken: Für die Öffentlichkeit war weiterhin nichts vorgefallen. Auch nach dem Wochenende war – abgesehen von einer kleinen Meldung im Weimarer Lokalteil der Thüringischen Allgemeinen – nirgends etwas über die kriminelle Behinderung unserer Arbeit berichtet worden. Das war ein Schock, der lähmte, denn es bedeutete, daß wieder einmal nur die JF selbst über ihre eigene Sache berichten würde. Der Kreis derer, die Kenntnis vom Überfall erhalten würden, bliebe beschränkt auf die eigenen Leute, und der Vorwurf der Übertreibung würde ganz sicher erhoben werden. Die Argumentationskette war stets dieselbe: So schlimm, wie die JF den Vorfall beschrieb, konnte es nicht gewesen sein. Denn die unabhängigen Medien in einer freiheitlichen Demokratie hätten einen massiven Angriff auf die Pressefreiheit sicherlich nicht verschwiegen, sondern schon aus prinzipiellen Gründen aufgegriffen. Man müsse also davon ausgehen, daß die JF bewußt übertrieben habe, um Solidarität zu erzwingen, wo keine notwendig sei. Und so kam es: JF-Redakteur Markus Zehme schrieb den Beitrag über den Raubüberfall. Von den Lesern kamen aufmunternde Briefe und Anrufe, die JF konnte einige trotzige Neu-Abonnenten als Solidarisierungsgewinn verbuchen und damit die panikartigen Kündigungen von Leuten ausgleichen, denen ab sofort bereits der regelmäßige Bezug einer angefeindeten Zeitung zu gefährlich erschien. Obwohl die Ausgabe mit Zehms Bericht breit in die deutschen Zeitungs- und Rundfunkredaktionen gestreut wurde, kam keine mediale Reaktion, auch nicht von den beiden Journalisten, die für eine genauere Recherche bei Dieter Stein anriefen. Als ich nach einer Woche – wiederum mit dem „Billig-Ticket“ – zurück nach Hannover fuhr, tat ich es erstmals mit dem Gefühl von Aussichtslosigkeit: Schlimmer als die Gegnerschaft gutorganisierter und gewaltbereiter Antifaschisten war das lässige Schweigen derer, die an den Schalthebeln der öffentlichen Wahrnehmung saßen und genau wußten, was sie taten, wenn sie schwiegen. Wenn das so blieb, würde die JUNGE FREIHEIT lautlos verschwinden. Götz Kubitschek ist Verleger (Edition Antaios), verantwortlich für die vom Institut für Staatspolitik (IfS) herausgegebene Zeitschrift Sezession und Autor des Jubiläumsbuches „20 Jahre JUNGE FREIHEIT“. Zu der hier beschriebenen Zeit, 1994, war er Praktikant der JF, von 1995 bis 1997 Redakteur für Sicherheitspolitik. Internet: www.edition-antaios.de Weitere Informationen, mit Fotos, Grafiken u.ä. finden Sie in der PDF-Datei „20 Jahre JUNGE FREIHEIT“. oder im Portal JUNGE FREIHEIT
- Literatur