Mitte Dezember vorigen Jahres hat der Historiker Michael Wolffsohn in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen großen Aufsatz zum Thema Judentum und Christentum veröffentlicht. Bemerkenswert daran war, daß eine Annahme in Frage gestellt wurde, die längst fest im öffentlichen Bewußtsein verankert ist: die Annahme einer „jüdisch-christlichen Tradition“, das heißt eines mehr oder weniger ungebrochenen Kontinuums zwischen Altem Testament – oder wie es theologisch-korrekt heißt: „jüdischer Bibel“ – und Neuem Testament. Es geht bei dieser Art der Deutung der Beziehung von Christentum und Judentum auch um die Aufgabe des christlichen Absolutheitsanspruchs, aber doch um etwas anderes als den Versuch, die großen monotheistischen Religionen allesamt zu „abrahamitischen“ zu erklären oder vorzustellen, es gebe gar keine „Fremd-„, sondern nur noch „Geschwisterreligionen“. Hervorzuheben ist, daß die Behauptung einer „jüdisch-christlichen Tradition“ vor allem von kirchlicher Seite ins Spiel gebracht wird und die Absichten von Anfang an weit über das Ziel hinausgingen, den inneren Zusammenhang beider Religionen stärker ins Bewußtsein zu rücken. Eigentlich strebt man eine Generalrevision der historischen Entwicklung an, die zur Scheidung von Judentum und Christentum führte. Schon der in den siebziger Jahren einflußreiche amerikanische Theologe Krister Stendahl stellte die Frage nur noch rhetorisch, ob Christentum und Judentum „nicht nach dem Willen Gottes, sondern gegen ihn auseinandergegangen sind?“ Entsprechende Auffassungen hat im deutschen Protestantismus vor allem Eberhard Bethge vertreten, der auch entscheidenden Anstoß zu jener Entschließung der Rheinischen Synode von 1980 gab, wonach die Judenmission aufzuhören habe, in „Erkenntnis christlicher Mitverantwortung und Schuld an dem Holocaust, der Verfemung, Verfolgung und Ermordung der Juden im Dritten Reich“. Unter Hinweis auf das historische Versagen sollte nicht nur der Antijudaismus der Kirche, mitsamt dem Vorwurf des „Gottesmordes“ und der kollektiven Verwerfung, überwunden werden, sondern auch das Selbstverständnis der Christenheit als „neues Israel“ verschwinden, auf das ganz oder teilweise übertragen wurde, was ursprünglich dem „alten Israel“ verheißen worden war. Allerdings ging es nicht um nur theologische Vergangenheitsbewältigung. Die Rede von der „jüdisch-christlichen Tradition“ sollte auch einen positiven Zweck erfüllen: insofern, als sie helfen konnte, die Verunsicherung in Glaubensfragen zu begrenzen. Hatte man früher dieses Defizit durch Anleihen im Politischen oder Sozialen auszugleichen versucht, wollte man nun auf das intakt und moralisch überlegen wirkende Judentum zurückgreifen. Die Bevorzugung alttestamentlicher Vornamen in evangelischen Pfarrhäusern und die ästhetische Orientierung von Kirchenkunst an dem aus einem jüdischen Elternhaus stammenden Maler Marc Chagall (1887-1985) sind insofern nicht nur Äußerlichkeiten, sowenig wie die Forderung nach „christologischem Besitzverzicht“ durch den Neutestamentler Peter von der Osten-Sacken oder die frühe Konversion des Alttestamentlers Georg Fohrer als unerhebliche Einzelfälle betrachtet werden können. Die Formel „jüdisch-christliche Tradition“ findet sich auch auf katholischer Seite, wird dort aber genauer und mit größerer Zurückhaltung verwendet. Offener Widerstand gegenüber der ganzen Tendenz läßt sich aber nur auf jüdischer Seite feststellen. Der Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, Stephan Kramer, sprach unlängst kritisch von „Vereinnahmung“ und „der nichtjüdischen Sehnsucht …, alle Widersprüche und Differenzen zwischen Judentum und Christentum aufzulösen“. Und auch der eingangs erwähnte Text von Wolffsohn läßt die Sorge erkennen, daß von nichtjüdischer Seite versucht werde, Überlieferungen zu okkupieren, die genuin jüdisch sind. Dabei hat Wolffsohn ausdrücklich darauf hingewiesen, daß Judentum und Christentum trotz ihrer prinzipiellen Verschiedenheit einen gemeinsamen Ursprung haben, nur sei nicht das eine aus dem anderen hervorgegangen. Vielmehr habe die Eroberung Jerusalems durch die Römer im Jahr 70 die ältere jüdische Überlieferung abgeschnitten und einerseits das neue Judentum hervorgebracht, das ohne Tempel und Opfer auskam, andererseits das Christentum als eine schließlich ganz vom Judentum getrennte Religion entstehen lassen. ……………………………. Die Formel „jüdisch-christliche Tradition“ strebt eine Generalrevision der historischen Scheidung von Judentum und Christentum an. Offener Widerstand gegenüber dieser Tendenz läßt sich nur auf jüdischer Seite feststellen. ……………………………. Was durch diese Art der Argumentation verständlicher wird, sind die jüdischen Elemente, die im Christentum immer vorhanden waren: von der Stellung des Alten Testaments in der Lehre über jüdische Elemente in der Liturgie, die Wochenordnung mit sechs Arbeits- und einem Feiertag (im Gegensatz zur griechischen Dekade und der römischen Woche mit acht Tagen) und die ursprünglich weitergehenden, jetzt nur noch teilweisen Entsprechungen zwischen jüdischem und christlichem Kirchenjahr bis hin zur Übernahme bestimmter Äußerlichkeiten wie etwa dem Schleier und dem Ehering bei der Trauung. Was in Wolffsohns Text zu wenig beachtet wird, sind allerdings die anderen religiösen Traditionen, die bekanntermaßen aus dem Heidentum in das Christentum gekommen sind. Diese Art der Eingliederung fremder Traditionsbestände kam häufiger vor, betraf nur ausnahmsweise die Dogmatik, aber schon die Gottesdienstordnung, angefangen bei der Meß- und der Taufliturgie. Die Wochentage haben in vielen europäischen Sprachen, vor allem dem Deutschen und dem Englischen, ihre ursprünglichen, auf die alten Götter verweisenden, Namen behalten, anderes, etwa Toten- und Heiligenkult, atmete immer den Geist des Heidentums. Ähnliches wird man vielleicht sogar über den „Bilderdienst“ sagen können, gegen den es in der Kirche ursprünglich massiven, durch das jüdische Bilderverbot motivierten Widerstand gegeben hatte, der dann bezeichnenderweise zuerst im Westen aufgegeben wurde, während der Orient deutlich länger daran festhielt. Die Verehrung der heidnischen Götter hörte allerdings mit der Bekehrung ganz auf, nur in der Magie und dem Volksglauben an Riesen, Zwerge, Elfen, Nixen, Wichte, Trolle, Wald-, See-, Berggeister, Wassermänner und Kobolde erhielten sich Relikte. Wie der schwedische Theologe Helge Ljungberg zutreffend bemerkte, ist die „niedere Religion … um den Religionswechsel ‚herum'“ gegangen. Die Duldung von Heidnischem im Christentum hatte zuerst praktische Gründe. Im Juni 600 erklärte Papst Gregor I. mit Blick auf die Mission in England: „Tempel, die dieses Volk den Göttern geweiht hat, sollen nicht zerstört werden, sondern nur die Götzenbilder, die sich darin befinden. Man weihe Wasser, besprenge das Innere, errichte Altäre, lege Reliquien nieder. Denn wenn diese Tempel fest gebaut sind, soll man sie dem Kult der Dämonen entziehen und sie dem Dienst des wahren Gottes weihen. Wenn sie sehen, daß ihre Tempel nicht zerstört wurden, wird dieses Volk den Irrtum aus seinem Herzen reißen und den wahren Gott erkennen und anbeten und sich leichter an den vertrauten Orten versammeln. … Ohne Zweifel ist es unmöglich, bei ungebildeten Menschen die traditionellen Bräuche sofort vollständig auszurotten: wer einen hohen Ort erklimmen will, gelangt nur stufenweise dorthin, Schritt für Schritt, nicht aber im Sprung.“ Auch wenn die europäischen Völker diesen Aufstieg Schritt für Schritt vollzogen, verschwand ihr älteres Erbe, wenn man so will: die heidnische Mentalität, nie vollständig. Viele spezifische Züge der mittelalterlichen Religiosität – von den Kriegerheiligen und der Idee des Rittertums mitsamt der Gralslegende bis zur Mystik des Meister Eckehart – kann man als Umprägung oder Anverwandlung betrachten. Aber damit werden heikle theologische Fragen berührt. Sie haben leider nur selten die Aufmerksamkeit gefunden, die von Anfang an dem Verhältnis zwischen Christentum und Judentum gewidmet wurde. Immerhin ist das Bewußtsein einer gewissen „Zwiegläubigkeit“ (Rudolf Fahrner) seit der Romantik in Deutschland immer stärker geworden. Damit soll allerdings nicht der Eindruck erweckt werden, als ob es sich um ein spezifisch deutsches Problem handelte; deshalb sei auch auf die Überlegungen Nicolai Grundtvigs und Gilbert Keith Chestertons hingewiesen. Grundtvig war der große Reformer des dänischen Protestantismus im 19. Jahrhundert. Er hatte sich aber auch intensiv mit der älteren skandinavischen Überlieferung auseinandergesetzt und lehnte die Ansicht von der Wertlosigkeit des Heidnischen ganz entschlossen ab. Er vertrat dagegen die Überzeugung, daß in der germanischen Religion die christliche Offenbarung vorbereitet wurde. Der am Weltenbaum hängende Odin, der sich selbst zum Opfer gebracht hatte, war für Grundtvig eine Präfiguration des gekreuzigten Christus. Er hat damit die Idee einer „natürlichen Offenbarung“ gedehnt, aber auch eine Antwort auf die Frage zu geben versucht, wie der liebende Gott davon absehen konnte, sich auch jenen Menschen mitzuteilen, die nicht im „auserwählten Volk“ geboren wurden und nicht die Möglichkeit hatten, das Evangelium zu hören. Er kam dabei der Auffassung Augustinus‘ über das Christentum vor dem Christentum sehr nahe: „Was man gegenwärtig christliche Religion nennt, bestand schon bei den Alten und fehlte nicht den Anfängen des Menschengeschlechts, bis Christus im Fleische erschien. Von da an erhielt die wahre Religion, die schon vorher vorhanden war, den Namen der christlichen Religion.“ ……………………………. Die Verehrung der heidnischen Götter hörte mit der Bekehrung auf, nur in der Magie und dem Volksglauben an Riesen, Zwerge, Elfen, Nixen, Wichte, Trolle, Wald-, See-, Berggeister und Kobolde erhielten sich Relikte. ……………………………. Die geistige Atmosphäre, in der Chesterton lebte, war von der Grundtvigs gänzlich verschieden. Er gehörte zu den ambitionierten Literaten der spätviktorianischen Ära. Sein Übertritt zum Katholizismus wurde von vielen Zeitgenossen auch als Ausdruck seines Widerspruchsgeistes betrachtet und seiner bekannten Neigung zugeschrieben, „reaktionäre“ Positionen zu beziehen. Chesterton hat nicht nur die Orthodoxie verteidigt, sondern sich auch mit dem Neuheidentum seiner Zeit – das in England praktisch nur eine Angelegenheit von Intellektuellen war – auseinandergesetzt. Er hielt die entsprechende Tendenzen kaum für gefährlich, zum einen, weil das neue mit dem alten Heidentum wenig zu tun hatte, zum anderen, weil das Heidentum an sich selbst zugrunde gegangen sei und aus sich selbst das Christentum hervorgebracht habe: „Wenn wir aber das heidnische Ideal vom einfachen und rationalen Weg zur Vollkommenheit wieder in Kraft setzen und ihm nachstreben, dann werden wir dort enden – wo das Heidentum endete … beim Christentum.“ Das unmittelbare In-Beziehung-Setzen von Heidentum und Christentum wirkt auf den heutigen Leser ähnlich befremdend, wie es auf Chesterton gewirkt hätte, wenn eine direkte Ableitung des Christentums aus dem Judentum vorgenommen worden wäre. Diese Auffassung hat sich eigentlich nur etablieren können in einem historischen Augenblick, in dem die Fähigkeit erlahmte, Unterschiede – zwischen Religion, Kulturen, Völkern – wahrzunehmen. Im Judentum ist das Bewußtsein der Differenz aber immer besonders scharf ausgeprägt geblieben, eben weil von diesem Bewußtsein Existenz oder Nichtexistenz der Gemeinschaft abhängen konnten. Der älteste Versuch, eine Deutung für das Trennende zu geben, findet sich in der Geschichte von Noah und seinen Söhnen. Nach biblischer Überlieferung pflanzte Noah – der „Ackermann“ – nach dem Bundesschluß mit Gott zuerst einen Weinberg. Er trank von seinem Wein und fiel in Schlaf; dabei verrutschte sein Gewand und deckte sein Geschlecht auf. Noahs Sohn Ham tat nichts, um die Schande abzuwenden, aber der Älteste Sem und der Dritte Japhet bedeckten den Vater. Diese Erzählung hat traditionell als Legitimation der Auffassung gedient, wonach Israel und die ihm verwandten Völker – die Semiten – als bevorzugt anzusehen seien, während die Nachfahren Hams – die Kanaanäer, dann die schwarzafrikanischen Hamiten – als geborene Knechte betrachtet wurden. Den Japhetiten war Ausbreitung und Teilhabe am Erbe Sems zugesprochen, ansonsten bleibt der Segen Noahs an dieser Stelle blaß. Zu den Geheimnissen der Geschichte gehört, daß gerade die Japhetiten das Evangelium annahmen. Das hat in der ersten – judenchristlichen – Gemeinde schon für Unruhe gesorgt und zu jenem „Apostelkonvent“ geführt, auf dem Paulus nicht nur die Erlaubnis zur Fortsetzung seiner Mission unter den Heiden erreichte, sondern auch deren Freiheit von den jüdischen Kultvorschriften, eigentlich vom „Gesetz“ überhaupt. Welchen Weg die Kirche genommen hätte, wenn das Judenchristentum nicht wie das von Wolffsohn so genannte „Tempeljudentum“ durch die Eroberung Jerusalems vernichtet worden wäre, steht dahin. Tatsächlich ist die christliche Botschaft außerhalb der Grenzen Israels mit viel größerer Bereitwilligkeit aufgenommen worden als jemals im Einflußbereich des Judentums, und das hat seine historische Entfaltung bestimmt. Diesen Prozeß rückgängig machen zu wollen, ist ein ebenso lächerliches wie sinnloses Unterfangen, und wenn es wider Erwarten Erfolg hätte, würde es nur zerstören, was die christliche Identität verbürgt. Das Christentum als Christentum ist keine Variante des Judentums. Die Trennung beider lag im Plan Gottes oder wenigstens in der Logik der geschichtlichen Entwicklung. Und im Grunde gilt von jedem Christen, was der kolumbianische Philosoph Nicholás Gómez Dávila (1913-1994) über sich selbst gesagt hat, nämlich, daß er nur ein Heide sei, der versuche, an Christus zu glauben. Dr. Karlheinz Weißmann ist Historiker und unterrichtet als Studienrat Geschichte und Religion an einem Gymnasium in Göttingen. Bild: „Noah verflucht Ham“, Gustave Dore (1832-1883): Das Christentum ist keine Variante des Judentums, die Trennung beider lag im Plan Gottes
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