Europa hat einen neuen Kleinstaat: Montenegro. Mit nur 2.000 Stimmen über der erforderlichen Anzahl sprachen sich die 470.000 Wähler in dem Adrialand für die Auflösung des Staatesbundes mit Serbien aus – ein EU-Konstrukt, das im Sog des Zerfalls Jugoslawiens nicht haltbar war. 55,5 Prozent wählten die Unabhängigkeit des ehemaligen Königreiches. Nun steht nur noch die Lösung der Kosovo-Frage an. Dann ist das Erbe Titos aufgeteilt. Damit entstehen aber auch neue Probleme auf und mit dem West-Balkan. Im Vordergrund stehen dabei die äußere Sicherheit der kleinen Staaten, ihre wirtschaftliche Überlebensfähigkeit und ihre weiter schwelenden ethnischen Probleme. Die ethnische Vielfalt könnte Sprengstoff bergen Mit einer Einwohnerzahl, die etwa der von Bremen entspricht, und einer Fläche von der Größe Schleswig-Holsteins, ist Montenegro zu einer eigenen Verteidigung nicht fähig. Auch seine ethnische Vielfalt könnte Sprengstoff bergen. Denn nur 43 Prozent sind Montenegriner, 32 Prozent aber Serben. Hinzu kommen die bosnische Minderheit mit 8 Prozent und die albanische mit 5 Prozent. Bereits wenige Tage nach dem Referendum vom 21. Mai forderte ein Vertreter der Serben für seine Volksgruppe eine Autonomie in dem neuen Staat. Zwar gab es zwischen den Volksgruppen in Montenegro bisher nicht solche Konflikte wie in Bosnien-Herzegowina und Mazedonien, auch verlief die Volksabstimmung relativ friedlich. Aber nach der Loslösung von Belgrad könnte bei den unterlegenen Serben früher oder später eine andere politische und religiöse Gefühlslage vorherrschen. Viel wird davon abhängen, ob Montenegro auf wirtschaftlichem Gebiet Fortschritte macht. Mit 3.100 US-Dollar Bruttoninlandsprodukt pro Kopf und Jahr rangiert es in Europa unter den Schlußlichtern. Ob der wachstumsstarke Tourismus das Land schnell nach oben ziehen kann, darf bezweifelt werden. 250.000 Feriengäste im Jahr sind nicht viel. Die Ferienorte an der Adria wie Budva und Herzeg-Novi oder im Fjord von Kotor stehen in harter Konkurrenz mit den attraktiveren Bädern an der langen kroatischen Küste. Eine Perle wie die kleine Hotel-Halbinsel Sveti Stefan ist wenig gegen die lange Kette touristischer Magneten im Nachbarland. Das Binnenland ist überwiegend karg und von Gebirgen bestimmt, die Landwirtschaft auf wenige fruchtbare Gebiete beschränkt.. Die Hauptstadt Podgorica, das frühere Titograd, ist für Besucher weit weniger interessant als Sarajevo, Dubrovnik, Mostar oder Split. Auch ist nicht zu erwarten, daß westliche Investoren in Scharen ihr Augenmerk auf Montenegro lenken werden. Es wäre deshalb falsch, Montenegro eine blühende Zukunft zu prophezeien. Denn auch im ehemaligen Jugoslawien gehörte es nicht zu den wirtschaftsstarken Landesteilen. Noch heute liegt Montenegro im wirtschaftlichen Wachstum hinter Serbien trotz dessen politischer und wirtschaftlicher Isolation. Die Arbeitslosigkeit liegt bei über 30 Prozent. Kenner des Landes beobachten aber seit einiger Zeit, daß der eigenständige Weg, den Montenegro bereits im Staatenbund mit Serbien verfolgt hat, auch durch die Bindung an die D-Mark und jetzt den Euro, neuen wirtschaftlichen Schwung ausgelöst hat. Den Ausgang des Referendums werten sie nicht als Abstimmung gegen die Serben, sondern als Wunsch, sich von der Vormachtstellung eines innerlich zerissenen Serbiens zu lösen. Dabei spielt eine Rolle, daß der außenpolitische Alleingang bestimmter Politiker in Belgrad, nicht zuletzt in der Kriegsverbrecher-Frage, Montenegro auf Dauer mit ins Abseits gezogen hätte. Schon im Jahr 1993 hatte sich der damalige Präsident und heute Ministerpräsident Montenegros, Milo Dukanovic, für die Beteiligung am Krieg gegen Kroatien entschuldigt. Rußland hat sich mit der Abtrennung abgefunden Djukanovic wurde 1991 mit 29 Jahren der jüngste Ministerpräsident Europas. Zuvor hatte er unter Milosevic eine steile Karriere in der ehemaligen kommunistischen Partei Jugoslawiens gemacht und stieg auf zum ZK-Mitglied. 1997 sagte er sich von Milosevic los und wandte sich dem Westen zu. Im Machtkampf innerhalb der Demokratischen Partei der Sozialisten (DPS) siegte er klar gegen den serbentreuen Momir Bulatovic, der daraufhin eine eigene Partei gründete. Bulatovic war jetzt beim Referendum sein härtester Widersacher gegen die Unabhängigkeit Montenegros. Nach der Abstimmung reklamierte er, daß 2.600 Wähler – also etwa die Zahl der für ein erfolgreiches Votum erforderlichen Wähler über der 55 Prozentmarke der EU – ihren Wohnsitz nur zum Schein nach Montenegro verlegt hätten. Sein Appell an die internationale Gemeinschaft, dies nachzuprüfen, wird erfolglos bleiben. Die Europäische Union, die USA und Rußland hatten sich schon seit längerem damit abgefunden, daß Jugoslawien durch die Abtrennung Montenegros endgültig der Geschichte angehört. Jugoslawien war als Königreich zwischen den Kriegen ein Produkt des Ersten Weltkrieges und als kommunistische Diktatur ein Ergebnis des Zweiten Weltkrieges. Der ehemalige Partisanenführer Marschall Josep Brosiz Tito, einst treuer Verbündeten der Sowjetunion, sagte sich von Moskau los und proklamierte einen „Dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Dies brachte ihm die Sympathie vieler Entwicklungslänger ein. Die Gewährung begrenzter Freiheiten in Jugoslawien, so unter anderem die Ausreise als Gastarbeiter in die Bundesrepublik Deutschland, bewirkte im eigenen Land Zustimmung für seinen Kurs – ebenso das Gewinnen westlicher Investoren und die Öffnung des Landes für ausländische Touristen. Der im Vergleich zum Ostblock höhere Lebensstandard hielt den Vielvölkerstaat zusammen. Daß Tito politische Widersacher wie Milojan Dilas, einst zweiter Mann im Staat, und aufbegehrende Intellekturelle wie Mihaljo Mihaljov grausam verfolgte und ins Gefängnis steckte, war eine Seite des Diktators, die man heute fast vergessen hat. Der US-Botschafter in Serbien und Montenegro, Michael C. Polit, gratulierte Montenegro zu der „friedlichen, demokratischen und transparenten Art“ des Referendums, Beide Seiten hätten politische Reife gezeigt. Der Sprecher des U.S. State Departments, Sean Mc Cormack, rief Serbien und Montenegro zur Zusammenarbeit nach der Trennung auf. Wenige Tage vor dem Referendum war der Präsident der einflußreichen Rockefeller-Stiftung zu Gast bei Ministerpräsident Djukanovic und versprach verstärkte Hilfe für Montenegro. Der russische Botschafter in Belgrad, Alexander Aleeksev, erkärte, Serbien und Montenegro seien „bevorzugte strategische Partner Rußlands“, und sprach vom „brüderlichen Serbien“ und „brüderlichem Montenegro“. Beide Weltmächte betrachten den Balkan nach wie vor als Teil ihrer Interessenssphäre und werden versuchen, in Podgorica massiv Einfluß zu nehmen. Es liegt nun an der EU, ob sie Montenegro von diesem Druck befreit, nachdem sie das Land in eine Zwangsehe mit Serbien gebracht hatte. Hier liegt auch das eigentliche Problem des neuen Staates, aber auch seiner Nachbarn. Sie möchten so schnell wie möglich in die EU und zumindest europäische Perspektiven wie Mazedonien aufgezeigt bekommen. Nach der letzten Erweiterungsrunde und angesichts des Gerangels um den Beitritt Rumäniens und Bulgariens hat man in Brüssel jedoch nicht die Absicht, in absehbarer Zukunft neue Kraftakte zu wagen, zumal die Fragen der inneren Verfassung der EU ungelöst weiterschwelen. Ohne die Länder des westlichen Balkans bleibt Europa unvollendet. Ohne EU-Perspektive werden ihre Bürger nach all dem Leid der Jugoslawien-Kriege bitter enttäuscht sein – mit Ausnahme der Mafia, die in all diesen Staaten an einer engen Verbindung zwischen krimineller Wirtschaft und politischer Macht arbeitet und für die innerlich instabile kleine Balkanstaaten bevorzugte Objekte sind. Wenn die EU weder willens noch fähig ist, diese Perspektive zu eröffnen, muß zumindest eine Zwischenlösung für den Balkan geschaffen werden. Sie könnte in einem europäischen Sicherheitskonzept für die Region bestehen, in einer Reduzierung der EU-internen Transfers für wirtschaftlich gut entwickelte Länder und deren Verwendung für die Stabilisierung des Balkans. Deutschland könnte eine führende Rolle spielen Gerade die Bundesrepublik Deutschland könnte hier wegen des traditionell hohen Ansehens der Deutschen in den meisten Balkanländern eine führende und stärkere Rolle spielen. Statt dessen verzettelt sich die deutsche Außenpolitik in weltweiten Engagements bei Konflikten, die vom Westen her nicht lösbar sind. Deutschland sollte sich ein Beispiel an Österreich nehmen, das politisch und vor allem wirtschaftlich sehr erfolgreich in Südosteuropa operiert. Es ist unbestreitbar, daß Deutschland im Rahmen des Stabilitätspaktes bereits eine Menge tut. Die Frage ist nur, ob das schon alles sein kann in einer Phase, in der die Neuordnung der Staatenwelt auf dem West-Balkan fast beendet ist, aber die wirtschaftlichen und vor allem ethnischen Probleme geblieben und die entstandenen Demokratien noch instabil sind. Es fehlt ein gesamteuropäisches Konzept für den Balkan. Auf deutscher Seite liegen die mangelnden Antriebskräfte vielleicht auch darin, daß sich im Bundestag und unter den deutschen Europa-Abgeordneten kaum jemand befindet, der sich – wie der heutige Hohe Repräsentant in Bosnien-Herzegowina, Christian Schwarz-Schilling – in diesen Ländern auskennt. Dabei geht es um eine zentrale Zukunftsfrage für Europa. Bislang ist der Einfluß der islamischen Welt auf den Balkan gering. Auch deshalb sollte die EU die Dinge nicht treiben lassen, sondern die Unabhängigkeit Montenegros zum Anlaß nehmen, ihre Balkanpolitik neu zu konzipieren und zu verstärken. Dabei spielen der Dialog mit Belgrad und die Hilfe für Serbien eine wichtige Rolle. Die Loslösung Montenegros bedeutet für Serbien nicht nur den Verlust des einzigen verbliebenen Adria-Zugangs, sondern auch das Entstehen einer weiteren Gruppe von Auslands-Serben. Serbiens neue Elite trotzt großserbischen Träumen Es ist anzuerkennen, daß Präsident Boris Tadic zu der „demokratischen Entscheidung“ gratuliert und hinzugefügt hat, Montenegro werde immer ein Freund Serbiens bleiben. Dies läßt hoffen, daß zumindest Teile der politischen Elite Serbiens konstruktiv mit der neuen Situation umgehen – nicht ohne Risiko für ihr Ansehen in der serbischen Bevölkerung, die teilweise in der Vergangenheit verhaftet ist, so daß großserbische Träume immer noch auf fruchtbaren Boden fallen. Viel schmerzhafter als die Unabhängigkeit Montenegros wäre für sie die Loslösung des Kosovo – für Serbien wegen der Schlacht auf dem Amselfeld ein historisch emotional behaftetes Gebiet. Im nächsten Jahr wird es für die Montenegriner erstmals eigene Pässe geben. Bei der Fußball-Weltmeisterschaft im Juni wird zum letzten Mal eine gemeinsame Mannschaft von Serbien und Montenegro spielen. Der Präsident des benachbarten Albanien, das mit Montenegro durch den Skodar-See und eine 120 Kilometer lange Grenze verbunden ist, hat nach der Volksabstimmung die Einschätzung abgegeben, die Region werde dadurch stabiler. Ob Ministerpräsident Sali Bersiha, der eine distanzierte Haltung zu der Konfliktbereitschaft der Albaner im Kosovo und in Mazedonien einnimmt, recht behält, wird sich zeigen. Erst wenn die Kosovo-Frage politisch klug gelöst wird und wenn die neuen Herrscher auf dem Balkan Toleranz, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in ihren Ländern pflegen, kann man wieder optimistischer hinsichtlich der Stabilität auf dem Balkan sein. Die Gefahr, daß aus Macht- und Profitsucht erneut autoritäre Strukturen in den Balkanländern entstehen, ist nach vielen Erfahrungen seit der Wende nicht von der Hand zu weisen. Letztendlich kommt es nun auf den Westen an. Stichwort: Stabilitätspakt für Südosteuropa Auf Initiative der deutschen Bundesregierung wurde der Stabilitätspakt für Südosteuropa im Juni 1999 ins Leben gerufen. Mit ihm sollen in der Region die Bemühungen um Frieden, Demokratie, Achtung der Menschenrechte, wirtschaftlichen Wohlstand und die Integration in die euro-atlantischen Strukturen Unterstützung finden. 40 Staaten und Organisationen – von der EU über die Nato bis zum IWF – haben sich der politischen Initiative angeschlossen, die über keine eigenen Finanzmittel verfügt. Bis Ende 2004 haben die Staaten der Region über 25 Milliarden Euro Unterstützung bekommen. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes hat Deutschland Unterstützung in Höhe von 1,26 Milliarden Euro gewährt. Koordinator des Paktes ist seit Januar 2002 der Österreicher Erhard Busek, der in Brüssel einen Stab von 35 Mitarbeitern koordiniert. Weitere Informationen im Internet unter www.stabilitaetspakt-soe.de .
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