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ESN-Fraktion, Europa der souveränen Nationen

Die verbotene Trauer

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Am kommenden Sonntag, dem Volkstrauertag, werden die Spitzen des Staates in der Neuen Wache, der „Gedenkstätte für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“, in Berlin ihre obligaten Kränze niederlegen. Was bedeuten dieser Tag und die Zeremonie? Der Volkstrauertag wurde 1926 zum Gedenken an die Gefallenen des Ersten Weltkriegs eingeführt. 1931 baute der Architekt Heinrich Tessenow das Schinkel-Gebäude zum Ehrenmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs um. 1933 wurde der Volkstrauer- in Heldengedenktag umbenannt. Am Ende des Zweiten Weltkrieges lag die Neue Wache in Trümmern. Trotzdem ließen die Berliner es sich nicht nehmen, Kränze und Blumen durch die Absperrgitter zu schieben, um ihre Trauer um die Kriegsopfer auszudrücken. Im Westen kam man diesem Bedürfnis durch die Wiedereinführung des Volkstrauertages entgegen. Der zentrale Gedenkort fehlte aber, denn die Neue Wache lag nun im sowjetischen Sektor. Die SED sah die privaten und spontanen Trauerbekundungen vor ihrer Haustür mit Argwohn, denn sie lagen konträr zu ihren politischen Absichten. Die Neue Wache galt ihr als ein Symbol des verhaßten Preußentums, sie erwog sogar ihren Abriß. Dann aber faßte sie den Entschluß, den emotionalen und symbolischen Wert des Gebäudes in ihr ideologisches Programm einzubauen und hier das zentrale „Mahnmal für die Opfer des Faschismus und Militarismus“ einzurichten. Damit wollte sie sich in die Kontinuität der deutschen Geschichte stellen, gleichzeitig sollte die DDR als die Überwinderin ihrer verderblichen Traditionen legitimiert werden. 1989 zeigte sich, wie gründlich dieser Versuch der separatstaatlichen Sinnstiftung mißlungen war. Die Besucher, die hierher kamen, wollten ganz überwiegend nicht den SED-Staat ehren, sondern die deutschen Kriegsopfer, die in der DDR eine ähnlich geringe Rolle spielten wie heute. Es spricht für den politischen Instinkt des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl, daß er das Gebäude als zentrale Gedenkstätte für das wiedervereinigte Deutschland durchsetzte. Über die aufgeblähte Pietà von Käthe Kollwitz im Innern kann man streiten. Auf jeden Fall ist die Neue Wache ein Ort ehrenden Gedenkens, wo der Besucher, der bereit ist, sich der Wirkung des Raumes zu öffnen, sich erstens als Angehöriger eines nationalen Kollektivs und zweitens als Glied in einer Abfolge der Generationen begreift. Damit ist ein Bewußtsein angesprochen, das die Vergangenheit mit der Gegenwart und Zukunft verbindet, nämlich das Bewußtsein unserer individuellen und kollektiven Generativität. Es geht um eine Kraft, die laut dem amerikanischen Psychologen und Sozialwissenschaftler John Kortre „allen menschlichen Formen der Reproduktion zugrunde liegt“. Vier Aspekte der Generativität seien hervorgehoben. Da ist zunächst der biologische, also die Fortpflanzung, durch die das Geschenk des Lebens, das man selber empfangen hat, weitergegeben wird. Der zweite ist der emotionale Aspekt. Er betrifft den Stolz auf das überkommene Erbe, und zwar als Wissen um eine verpflichtende Hinterlassenschaft, die man übernimmt, pflegt, ergänzt und weitergibt. Das dritte Bereich ist technisch-institutioneller Art. Er umfaßt Politik, Staat, Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft und die auf diesen Gebieten im Lauf der Geschichte erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Sie bilden den „Körper“ des Gemeinwesens, während der vierte, der kulturelle Aspekt, seinen „Geist“ meint. Hier geht es um die Bewahrung, Erneuerung und Fortschreibung eines kollektiven Bedeutungssystems. Diese vier Bereiche stehen in Wechselwirkung miteinander, und in der Summe konstituieren sie das, was man „nationale Identität“ nennen könnte. Wenn man die vier Aspekte durchdekliniert, erkennt man, wie schlecht es um Deutschland zur Zeit bestellt ist. Dieses immer noch verhältnismäßig reiche Land ist Weltmeister in der Kinderlosigkeit. Der Mangel an Kindern wird mit sozialen Details – etwa dem zu geringen Angebot an Kindergärten – begründet. Sie spielen eine Rolle, aber keine primäre. Der Verzicht auf Kinder ist häufig eine Entscheidung – eine Werte-Entscheidung – zugunsten individueller Selbstverwirklichung. Für diese „Nach mir die Sintflut“-Stimmung machte der Ratsvorsitzende der EKD, Landesbischof Wolfgang Huber, jüngst den totalen Vertrauensverlust in die Zukunftsfähigkeit dieses Landes verantwortlich. Diese Zukunftsangst hängt wesentlich zusammen mit einem emotionalen Mangel gegenüber dem eigenen Land und den vorangegangenen Generationen. Statt den Stolz auf das Erbe zu propagieren, wird dessen Unwert betont, der mittelbar auch jeden Einzelnen betrifft. Die Erkenntnis des Unwerts gründet sich auf den naiven Hochmut der Nachgeborenen, auf nichts sonst. Dessen unvermeidliche Begleiterscheinung ist die Infantilisierung, die sich in immer neuen Gossen der Spaßgesellschaft suhlt. Womit wir bei der Degeneration der technisch-institutionellen Ebene wären. Vor hundert Jahren sind Harvard-Professoren nach Deutschland gepilgert, um zu lernen, wie man universitäres Leben gestaltet. Heute gelten die deutschen Hochschulen als verrottet, finanziell ausgeblutet, kraftlos, ohne Selbstbewußtsein. Es ist eine Ironie der Geschichte, daß von den Universitäten die Umdefinition des nationalen Bedeutungssystems, die Fokussierung auf die NS-Verbrechen, ausging. Diese Umdeutung dauert an, sie manifestiert sich in der Zerstörung von Gefallenendenkmälern, in der Umwidmung oder Stigmatisierung von Symbolen, in der Verleumdung der Väter- und Großvätergeneration. Auch die Schnapsidee, wegen der kränkelnden Wirtschaft den einzigen Nationalfeiertag aufzugeben, konnte nur in Deutschland geboren werden. Die dafür verantwortlichen Politiker sind die Gefangenen ihrer selbstgebauten Geschichtsfalle geworden. Sie können sich Deutschland nur als ein Gemeinwesen vorstellen, dessen ausschließliche Grundlage sein Sozialprodukt ist. Dieser niedrige Horizont versperrt ihnen den Blick auf die Ressourcen, die zu seiner Steigerung bereitliegen. Im überraschenden Proteststurm von links bis rechts, der diesen Plan zu Fall gebracht hat, drückt sich die fortschreitende Erkenntnis aus, daß Deutschland ohne kollektive Symbolik und ohne Selbstwertgefühl keine Zukunft mehr hat. Der Volkstrauertag kann einen Anstoß dazu geben, indem er Respekt für die eigenen Opfer und für frühere Generationen weckt. Ein Land, das zur Selbstachtung zurückfindet, braucht keine Zukunftsängste zu haben. Alte Kirchenglocken tragen die Inschrift: „Vivos voco. Mortuos plango. Fulgura frango.“ Die Lebenden rufe ich, die Toten beweine ich, die Blitze breche ich.

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Marc Jongen, ESN Fraktion
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