Am Ende des Regenbogens liegt kein Topf voller Gold, sondern die Stadt Neubrandenburg. Seit fast zwei Wochen demonstrieren dort die Menschen, weil sie ihre Regenbogenfahne wieder zurückhaben wollen – für eine fast-Regiopole mitten im Osten ist das schon allerhand. Schließlich wird dem Landstrich regelmäßig nachgesagt, nichts mehr mit „woker“ Politik anfangen zu können. Nun also doch? „Wir waren selbst etwas über die Reaktionen überrascht“, gibt auch der Fraktionschef der AfD im Stadtparlament, Peter Fink, zu. Seine Partei ist im Juni mit rund 21 Prozent als stärkste Kraft aus den Kommunalwahlen hervorgegangen. Regenbogenproteste in einer AfD-Hochburg – wie kommt’s?
Doch eins nach dem anderen – die jüngste Schlagzeile aus der Stadt mit den malerischen vier Toren lautet, daß der Beschluß des Neubrandenburger Stadtrates, die Regenbogenflagge einzuholen, womöglich schon bald wieder zurückgenommen werden könnte. „Wir beantragen, den Oberbürgermeister zu beauftragen, daß sowohl die Deutschlandfahne als auch die Regenbogenfahne abwechselnd am Bahnhofsplatz gehißt werden“, schrieb der Ratsherr Tim Großmüller vom Wählerbündnis Stabile Bürger für Neubrandenburg in einer Vorlage, aus welcher der Nordkurier am Montag zitierte. Das Kuriose daran: Großmüller war gewissermaßen der Ideengeber des Regenbogenverbots. Er war es, der den entscheidenden Antrag ins Stadtparlament einbrachte. Nun rudert der Ex-Kanute also zurück…
Mit seinem Angebot will Großmüller dazu beitragen, die Spannungen in Neubrandenburg zu entschärfen und die Aufmerksamkeit wieder auf die dringlichen Themen der Stadtpolitik zu lenken. Es gehe um eine „Zeichen für ein respektvolles und friedliches Miteinander“, so der Unternehmer. Sein Ziel sei bei dem Verbotsantrag von Anfang an nur der Sturz des Oberbürgermeisters Silvio Witt (parteilos) gewesen.
Schmutzkampagnen über Schmutzkampagnen
„Mir ging es ganz klar darum, Witt weg aus dem Amt zu bekommen, weil er ein Hemmnis in der Weiterentwicklung der Stadt Neubrandenburg war“, unterstrich der 44jährige im Gespräch mit der Regionalzeitung. Gegen den Oberbürgermeister als Menschen habe er hingegen nichts, beteuerte er. In den vergangenen Jahren waren Großmüller und sein Wählerverbund jedoch immer wieder durch wüste Attacken auf Witt in Erscheinung getreten.
So zogen die Stabilen Bürger für Neubrandenburg im Internet über den „kleinen fetten OB“ her. Im Frühjahr erhielt Großmüller deshalb Besuch von der Polizei. Im Raum stand der Vorwurf der Beleidigung und Bedrohung des Stadtoberen. 2022 wurden aus dem Umfeld der CDU-Ratsfraktion umgekehrt Mobbingvorwürfe gegen Witt selbst laut. Diese konnten jedoch nie erhärtet werden.
Oberbürgermeister Witt setzt sich für Rückabwicklung des Verbots ein
In den vergangenen Tagen liefen unterdessen mehrere Demonstrationszüge durch die mecklenburgische Kreisstadt, um ein Zeichen gegen das Einholen der Regenbogenflagge zu setzen. An den Protesten nahmen teils über 1.000 Menschen teil. Auch Oberbürgermeister Witt beteiligte sich an den Aktionen. Nach Bekanntwerden des Stadtratsbeschlusses Anfang des Monats verkündete der Kabarettist seinen Rücktritt. Anfang Mai 2025 werde er sein Amt vorzeitig aufgeben.
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Dem NDR gegenüber machte er das vergiftete Klima in der Stadtvertretung mitverantwortlich für seinen Weggang. Seit Jahren habe er dort Schmähungen und Diffamierungen erdulden müssen. „Destruktive Sachen machen mürbe, weil man nicht weiterkommt. Es geht nicht um die Sache, sondern darum, jemanden zu bekämpfen. So bewerte ich auch den Beschluß der Stadtvertretung“, faßte Witt seine Sicht auf den Flaggenentscheid zusammen.
Im Gespräch mit dem Norddeutschen Rundfunk betonte er, er sehe die Demokratie in der Stadt und im Land gefährdet – gerade auch mit Blick auf die Sticheleien im Stadtparlament. Es gebe Mittel und Wege, den Beschluß wieder rückgängig zu machen. „Die Neubrandenburger Stadtvertretung hat jederzeit die Möglichkeit, ihre eigenen Abstimmungen zu wiederholen“, bekräftigte er bei einer Rede auf einer Kundgebung vergangenes Wochenende vor dem Rathaus der Stadt, die von einer mittelalterlichen Stadtmauer eingerahmt wird. Für diese Rückabwicklung werde er sich auch persönlich einsetzen.
Herrscht in Neubrandenburgs Stadtparlament eine Atmosphäre zum Gruseln?
Aufgrund der verfahrenen Atmosphäre in der Stadtpolitik nahmen Witt und der Stadtrat 2023 an dem Pilotprojekt „Guter Rat für mehr Respekt“ von der Körber-Stiftung teil, die das Arbeitsverhältnis der Kommunalpolitiker verbessern sollte. Der JUNGEN FREIHEIT gegenüber kommentierte der Chef der Neubrandenburger AfD-Fraktion, Peter Fink, das Vorhaben im Rückblick mit den Worten: „Dieses Projekt war aus unserer Sicht unnötig und hat den Steuerzahler unnötig Geld gekostet.“
Überhaupt sei nur die Beziehung zwischen Oberbürgermeister und Stadtparlament angespannt gewesen. Die Ratsherren selbst hätten „gut und fair“ miteinander gearbeitet. „Konstruktive Anträge sind kein Mobbing“, unterstrich Fink. Witt sei aus dem Stadtrat immer häufiger mit Ideen konfrontiert worden, die nicht seinen Vorstellungen für Neubrandenburg entsprochen hätten. „Der Beschluß zur Regenbogenfahne war ein willkommener Anlaß den angekündigten Rücktritt zu rechtfertigen.“
AfD überrascht: „Als seien wir die Regenbogenhauptstadt Deutschlands“
Die Pirouette seines Ratsherrenkollegen Großmüller kommentierte Fink indes mit Unverständnis. „Ich kann nicht nachvollziehen, was da passiert ist. Mit uns hat er sich jedenfalls nicht abgesprochen. Wir werden uns deshalb auch nicht an dieser Diskussion beteiligen, weil wir uns nicht lächerlich machen wollen“, stellte der 54jährige klar.
Von der Breite der Proteste aus der Stadtgesellschaft zeigte indes auch er sich beeindruck: „Wir selber haben fast ein bißchen den Eindruck als seien wir derzeit die Regenbogenhauptstadt von Deutschland.“ Eine derartige Mobilisierung habe er nicht kommen sehen. Eigentlich sei es ihm herzlich egal, welche Fahne da auf dem Bahnhofsvorplatz wehe. Die Hauptsache sei, „daß endlich mal wieder Ruhe einkehrt und wir zur Tagesordnung übergehen können“, um die wirklichen Probleme der Stadt anzugehen.
Bündnis Wagenknecht berichtet von hanebüchenen Antragsschlachten
Der Pressesprecher der BSW-Fraktion im Stadtrat äußerte der JF gegenüber ebenfalls Zweifel ob der Bedeutsamkeit des Flaggenbeschlusses. „Wir waren und sind der Überzeugung, daß nicht Fahnen die Lebensbedingungen der Menschen verbessern und daß es viele bedeutsame Themen gibt.“ Gleichwohl bedauere man, mit dem teilweisen Votum für das Verbot die Gefühle von Menschen verletzt zu haben.
Im Übrigen habe Großmüller das Stadtparlament seinerzeit mit zehn fehlerhaften Anträgen überschüttet, auf die man sich der offensichtlichen Mängel wegen nicht vorbereitet hatte. Als der Ratsherr einen der Anträge – den zum Verbot der Regenbogenflagge – schließlich doch noch ausbessern konnte, mußte man sich „kurzfristig positionieren“. Drei der BSWler hätten daher zugestimmt. Im Ergebnis – 15 mal Ja, elf mal Nein und acht Enthaltungen – hatte Großmüller mit seiner Eingabeflut Erfolg. Der JUNGEN FREIHEIT gegenüber bemühte sich das BSW trotzdem klarzustellen: „Es gab eine Mehrheit ohne das BSW, die Fahne zu entfernen.“
Vor allem das Bündnis Sahra Wagenknecht war nach der Abstimmung über das Regenbogen-Aus in die Kritik geraten, gemeinsam mit der AfD und Bürgerinitiativen wie dem „Projekt NB“ gestimmt zu haben, das aus dem „Unternehmeraufstand MV“ gegen die Wirtschafts- und Sanktionspolitik der Bundesregierung hervorgegangen ist. „Das BSW stimmte gegen den Regenbogen gemeinsam mit den Rechten und Ultrarechten“, echauffierte sich beispielsweise Thüringens kommissarischer Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke) nach Bekanntwerden des Verbots.
Eine Stadt im Zeichen des Regenbogen
Auch Teile der Neubrandenburger Stadtgesellschaft sprachen sich derweil für eine Rücknahme des Fahnenverbots aus. So postete etwa die Neubrandenburger Theater und Orchester GmbH Neubrandenburg/Neustrelitz, die mehrere Spielstätten in Mecklenburg-Vorpommern wie zum Beispiel die große Konzertkirche in Neubrandenburg unterhält: „Wir haben und hatten schon immer einen Platz für alle in unseren Reihen – Die Theater und Orchester GmbH war, ist und bleibt bunt!“
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Auch am Neubrandenburger Schauspielhaus flattert seither eine Regenbogenflagge, ebenso an Fensterfronten in der Innenstadt. Auch Ladengeschäfte in der zentralen Einkaufspassage sind entsprechen geschmückt. Am Bahnhofseingang selbst prangen zwei gut sichtbare Regenbogengraffitis. Nach dem Hinspiel im Rathaus scheint nun das Rückspiel auf der Straße zu folgen.