In der Adventszeit wird es auch in Berlin besinnlich – oder es wird wenigstens versucht, besinnlich zu sein. In Ministerien, Fraktionen und Abgeordnetenbüros finden Weihnachtsfeiern statt. Die Restaurants im Regierungsviertel haben kaum noch Tische frei. Gastgeber suchen auch aus einem anderen Grund immer länger nach geeigneten Lokalen: Die einen Gäste wollen nur vegane Mahlzeiten, andere brauchen glutenfreie Kost oder vertragen keine Laktose. Da wird es schwer, ein Restaurant zu finden, wo alle essen wollen beziehungsweise können. Aber das ist ein anderes Thema.
„Schauen Sie sich diesen Baum an, 24 Meter hoch. Aus meiner Heimat im Harz“, sagt ein früherer Mitarbeiter der Unionsfraktion, der gerade einen Spaziergang am Reichstag macht, wo dieses Prachtstück steht. Im Reichstagsgebäude wurde ein sogenannter Wichern-Kranz aufgestellt. Benannt ist der Kranz nach Johann Heinrich Wichern, der 1839 ein Wagenrad mit vier großen und 20 kleinen Kerzen versah und damit die Deutschen angestiftet haben soll, in ihren guten Stuben Adventskränze aufzustellen.
Bundestagsvizepräsidentin Pau betont die Ruhe unterm Baum
Aus den Ammergauer Alpen, dem jüngsten Naturpark Deutschlands, stammt im Paul-Löbe-Haus ein Baum, dessen Übergabe von einem Kinderchor aus Oberammergau musikalisch begleitet wurde. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt, in dessen Wahlkreis Oberammergau liegt, verteilte an die kleinen Sänger Päckchen mit Süßigkeiten.
Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Linke) hatte bei Übergabe des Wichern-Kranzes betont, wie wertvoll es sei, zwischen den turbulenten Sitzungen und Debatten ein Stück Ruhe an den Bäumen und Kränzen erleben zu können – wenigstens für einen Augenblick.
Der altgediente Fraktionsmitarbeiter kann dies bestätigen. Vor einigen Jahren habe er ein Gespräch an einem Weihnachtsbaum im Jakob-Kaiser-Haus mitgehört. Dort habe jemand erzählt, wie er nach einem turbulenten Jahr mit Arbeitslosigkeit und Krankheit wieder eine Arbeit im Bundestag gefunden habe – und dieser Baum ihn seitdem jedes Jahr an das erste Weihnachtsfest ohne Sorgen seit langem erinnere. Da bekämen die Lichter am Baum einen wärmeren Schein.
Vertraute Lieder in ganz neue Klangwelten zu verwandeln
Ein besonders schöner Baum stehe in der Halle der Vertretung des Freistaats Bayern, berichtet der Fraktions-Veteran. Dort war er zur „Besinnlichen Stunde im Advent“. Der neun Meter hohe Baum aus dem Großhaager Forst sei prächtig, aber die Ankündigung des Bayern-Bevollmächtigten Rolf-Dieter Jungk, man werde in der Stunde Streß und Hektik des Alltags hinter sich lassen, habe sich nicht erfüllt.
Die Musiker der Gruppe „Luz Amoi“ aus Freising seien mit dem Hinweis ankündigt worden, vertraute Lieder in ganz neue Klangwelten zu verwandeln. „Das kann man so sagen. Von Besinnlichkeit keine Spur, eher Fortsetzung der Hektik – teilweise auf dem Niveau einer Straßenkapelle aus Rumänien.“ Das sei keine besinnliche Stunde, sondern ein politisch-korrektes Spektakel mit schlechter Musik gewesen. Da sei er gegangen, so der sichtlich enttäuschte Veteran.
JF 52/18 – 1/19