Es war Angela Merkels erster echter eigener Wahlsieg, und er hat im politischen System der Bundesrepublik Deutschland einiges an Flurschaden angerichtet: Obwohl eine Mehrheit der Wähler nicht für linke Parteien gestimmt hat, haben diese im neugewählten Bundestag eine Gestaltungsmehrheit. Die Union ist zwar stärkste politische Kraft, kann aber nur mit noch weiter links stehenden Parteien koalieren – zur Anbiederung gebrochene Wahlversprechen (war da noch was mit „keine Steuererhöhungen“?) inklusive. 15 Prozent der abgegebenen Stimmen, so viele wie noch nie, sind gleich ganz durch den Rost der undemokratischen Fünfprozenthürde gefallen. Mit dem deutschen Wahlsystem liegt einiges im argen.
Der Vergleich von Erst- und Zweitstimmenergebnissen zeigt eine krasse Diskrepanz: Zählten nur die direkt gewählten Abgeordneten in den Wahlkreisen, hätten CDU und CSU eine satte Dreiviertelmehrheit. Außer einem Fünftel Sozialdemokraten gäbe es als Opposition nur noch einen Grünen sowie eine Handvoll linker Einzelkämpfer. Hätte Deutschland ein Mehrheitswahlrecht nach britischem Vorbild, bei dem die relative Mehrheit im Wahlkreis genügt, oder nach französischem, das die absolute Mehrheit und gegebenenfalls eine Stichwahl verlangt, die Mehrheitsverhältnisse wären klar, der Wahlsieger könnte sich schlecht hinter Koalitionskompromissen verstecken und müßte zeigen, was er kann – das Risiko der ebenso deutlichen raschen Wiederabwahl inbegriffen. Der Charme des Mehrheitswahlrechts, über das man hierzulande gern die Nase rümpft, liegt nicht zuletzt in der Beschneidung der Macht der Parteiapparate, die keine „sicheren Listenplätze“ mehr vergeben könnten. Der einzelne Abgeordnete wäre seinen Wählern stärker verpflichtet.
Ein unsinnig aufgeblähtes Wasserkopf-Parlament
Das deutsche Wahlsystem sollte ursprünglich eine Mischung aus Mehrheits- und Verhältniswahlrecht sein. Das letzte Korrektivelement aus dem Mehrheitswahlrecht hat allerdings das Bundesverfassungsgericht kurz vor dieser Wahl gekippt, als es forderte, jeden Überhang an Erstmandaten durch Ausgleichsmandate nach dem Verhältnisproporz zu korrigieren. Vom gemischten System ist daher nur ein Doppelwahlverfahren geblieben – und ein unsinnig aufgeblähtes Wasserkopf-Parlament, das – größere Länder als Deutschland machen’s vor – auch mit der halben Abgeordnetenzahl genausogut funktionieren könnte.
„Verlorene“, nicht zum Tragen kommende Stimmen – ein Hauptargument gegen das Mehrheitswahlrecht, bei dem die Stimme aber eben im Wahlkreis zählt und nicht landesweit – gibt es im deutschen De-facto-Verhältniswahlrecht allerdings auch. Rund 15 Prozent der abgegebenen Stimmen sowie sämtliche Nichtwählerstimmen (immerhin mehr als die SPD einsammeln konnte) sind nicht nach ihrer ursprünglichen Intention gewertet worden, sondern bei der Sitzverteilung faktisch im Proporz den über die Fünfprozenthürde gerutschten Parteien zugeschlagen worden. Jeweils gut zwei Millionen Wähler, die eigentlich für FDP und AfD gestimmt hatten, sind so mit ihrem Wählerwillen gar nicht im Bundestag vertreten.
Scheinargument „Arbeitsfähigkeit“ des Parlaments
Nähmen die Karlsruher Richter ihr Argument gegen die bisherige Praxis der Überhangmandate ernst, daß jede Stimme gleiches Gewicht haben müsse, dann wäre es nur logisch, auch gleich sämtliche Sperrklauseln abzuschaffen und darüber hinaus festzulegen, daß nur so viele Sitze im Parlament vergeben werden dürften, wie es dem Anteil der tatsächlich abgegebenen gültigen Stimmen entspräche. Erst dann wäre das Verhältniswahlrecht in Reinform mit gleichem Stimmgewicht für alle verwirklicht.
Die vielbemühte „Arbeitsfähigkeit“ des Parlaments ist als Argument für die Ungleichbehandlung von Wählern kleinerer Parteien durch Fünf-, Vier- oder Dreiprozenthürden jedenfalls ebensowenig stichhaltig wie das Schreckgespenst von Weimar: Die erste deutsche Republik ist schließlich nicht an parlamentarischer Zersplitterung gescheitert, sondern daran, daß offen republikfeindliche Parteien zu stark geworden waren und die Verfassung, anders als das Grundgesetz, keine Handhabe bot, um ihnen Einhalt zu gebieten.
Eine Wahlrechts- und Parlamentsreform tut not
Immerhin, der seltsame Ausgang der Bundestagswahl vom 22. September hat eine Debatte über Sinn und Unsinn der Fünfprozentsperrklausel angestoßen. Die deutsche Demokratie braucht allerdings mehr als nur einige zaghafte Korrekturen an einzelnen Mißständen und Auswüchsen. Eine Wahlrechts- und Parlamentsreform täte dringend not. Nicht nur die Ungleichgewichtung und Entwertung der einzelnen Wählerstimme verlangt nach Korrekturen. Kernproblem ist die Übermacht der Parteiapparate, die sich das politische System zu eigen gemacht und höchst effektiv mit allerlei bürokratischen Hürden und dem privilegierten Zugriff auf finanzielle Ressourcen gegen unerwünschte Konkurrenz abgeschottet haben.
Ein Mittel zu ihrer Domestizierung wäre die Stärkung der direkten Demokratie durch zwingende Volksabstimmungen und Volksentscheide auf Bundesebene über Fragen von nationaler Bedeutung oder durch eine Direktwahl des Staatsoberhaupts. Zu hinterfragen ist auch die Rolle der Länderparlamente, die um so mehr zu Versorgungsstationen der Parteiapparate werden, je weniger sie zu sagen und zu entscheiden haben, weil die Länder durch zentrale Ausgleichs- und Umverteilungsmaßnahmen dem Wettbewerb untereinander und der eigenen Finanzhoheit weitgehend entzogen sind.
Die starke Stellung des Bundesrats als Länderkammer wiederum trägt das Ihre dazu bei, die Große Koalition als institutionalisierten Dauerkompromiß zu zementieren. Wünschen sich die Deutschen wirklich „österreichische Verhältnisse“ mit der Großen Koalition als Dauer- und Regelfall der Regierungsbildung? Dann aber bitte auch eine starke dritte Kraft, die der bräsigen Proporz-Gemütlichkeit Beine macht.
JF 41/13