Über 20.000 Tote und ein „Diktator, der sein Volk abschlachtet“. Die Berichte der deutschen Medien hören sich so an, als müßte allein die Einreise nach Syrien purem Selbstmord gleichkommen. Jedoch: Es existiert ein normales Leben – jenseits des Krieges. Offene Geschäfte, spielende Kinder auf den Straßen. „Wir lassen uns das Leben nicht kaputtmachen“, heißt es von Bürgern auf der Straße. „Wenn wir heute von einer Granate getroffen werden, dann hat es Allah so gewollt. Man kann nicht vor seinem Schicksal wegrennen.“ Die 91.000-Einwohner-Stadt Maarat an-Numan in Nord-Syrien war von Beginn an am Aufstand beteiligt. Hier und da sind große und kleine Einschußlöcher an Gebäuden zu sehen. Doch von systematischer Zerstörung kann keine Rede sein.
Saer Mandil, 18 Jahre wohnhaft in Deutschland, bringt mich zur neuen Polizeistation. Hier werden Probleme geklärt – Nachbarschaftsstreitigkeiten, Diebstähle, eine versuchte Vergewaltigung. Folter gäbe es im „Freien Syrien“ nicht mehr, heißt es. Und auch Hand-Abschlagen und Steinigen als Strafen der Scharia würden nicht angewandt, auch wenn dieses Gesetz von Allah stamme. „Wir sind nicht aggressiv wie die Leute in Afghanistan.“ Deshalb würden die Fälle nur notiert und mithilfe der bärtigen Scheichs nach Lösungen gesucht.
Besuch in einem improvisierten Krankenhaus
Gibt es denn auch eine Übersicht über die Opferzahlen dieses Krieges? Ja, seit März 2011 habe es allein hier 200 Tote und 1.350 Verletzte gegeben, heißt es. Doch für Beleg-Papiere wird ein Besuch im improvisierten Krankenhaus empfohlen. Gesagt, getan.
Im Süden der Stadt: Eine Schule ist zum Spital umgerüstet worden. Und genauso riecht es auch. Im Keller werden vier Verletzte aus Ariha behandelt – einem umkämpften Ort, etwa 30 Kilometer nördlich. Oben operiert ein Arzt einem Säugling Glassplitter aus dem Auge. Zwei Tage später werden die Behandlungsräume sogar ganz leer sein. 780 Patienten sind in der Übersicht dokumentiert – seit Juni 2012. Zuvor wäre diese Arbeit aufgrund der prekären Sicherheitslage nicht möglich gewesen. Die Namensliste aller Kriegstoten wird sich auch nach tagelanger Recherche nicht auffinden lassen.
Auf dem Städtischen Südfriedhof ist für fast jeden Toten ein ansehnlicher Grabstein aufgebaut worden.
Es gibt genau 28 Gräber mit der Aufschrift „Märtyrer“. Doch nicht für jedes Opfer werde dies auch nach außen demonstriert, heißt es. Und außerdem gäbe es ja noch die Grabstätte im Norden, wo es jedoch aufgrund der nicht weit entfernten Scharfschützen derzeit nicht ganz ungefährlich sei.
Die Frage nach dem Ablauf des Aufstandes bringt überraschende Antworten zutage: Ende März 2011 hätten 300 bis 400 Demonstranten erstmals das System herausgefordert. Ihre Zahl sei von Freitagsgebet zu Freitagsgebet auf bis zu 10.000 angestiegen. Die Strategie von Polizei, Geheimdienst („Mukhabarat) und loyalen Beduinenkriegern: Schüsse in die Luft.
Vor einem Jahr: die Eskalation
Im April 2011 habe es den ersten Toten gegeben, als Mitglieder des Staatsapparates einen Demonstranten mit ihrem Auto totfuhren. Im Mai: Das blutige Ende einer Sitzblockade auf der Autobahn. Ein Mann sei in Kugelhagel und Tränengas ums Leben gekommen, 10 weitere verletzt. Schließlich die Eskalation im August 2011: Panzer und Soldaten in den Straßen.
Freiwillige hätten sich mit selbst organisierten Waffen Scharmützel geliefert. Die „Freie Syrische Armee“ kenne man vor Ort seit Anfang 2012. Das war ein halbes Jahr nach ihrer Gründung. Warum die gut ausgerüsteten Truppen Baschar al-Assads nicht einfach wieder in die Stadt einrücken, bleibt eine offene Frage. „Er weiß, daß er alle Leute hier gegen sich hat. Und seine Truppen haben Angst“, so die Rebellen. Doch angesichts des dürftigen Waffenarsenals und der mangelnden Organisation müßten sich theoretisch eher die Aufständischen Sorgen machen. „Wir haben Allah auf unserer Seite.“
Und der scheint in der Tat zu helfen: Trotz des Einschlags von 10 bis 20 Mörsergranaten während der Nacht gibt es diesmal keine Toten. Seltsam ist auch, daß die weithin sichtbaren FSA-Einrichtungen trotz wochenlanger Angriffe unbeschädigt geblieben sind. Viele Sprengkörper scheinen stets nur am südlichen Stadtrand zu explodieren. Dort gibt es Häuser, Äcker und den Friedhof. Wo liegt der militärische Sinn? „Das verstehen wir selber nicht“, so die Aufständischen. Geht es der Armee vielleicht nur darum, zu demonstrieren, daß sie weiterhin vor Ort ist? Oder mangelt es der Truppe schlicht an Kampfgeist?
Am nächsten Tag: Ein MIG-Kampfflieger kreist über der Stadt. Lautes Dröhnen. Die meisten Leute ziehen sich in ihre Häuser zurück. Plötzlich eine Explosion am Boden, wenig später eine zweite an der gleichen Stelle. Ein Knall, der durch Mark und Bein geht. Doch verglichen mit NATO-Bomben war es wohl wenig. Das Ziel: Wieder mal der südliche Stadtrand. Offenes Straßenland. Keine Opfer.