Für rund 2.000 in Frankreich lebende Musliminnen hat sich das Leben mit einem Schlag verändert. Seit dem 11. April 2011 ist es in Frankreich nämlich gesetzlich verboten, eine Gesichtsverschleierung in der Öffentlichkeit zu tragen. Ausnahmen gelten unter anderem für Motorradhelme und Karnevalsmasken. Nicht aber für den Gesichtsschleier von Musliminnen. Denn bloß gegen letzteren, da ist man sich einig, und die Vollschleier tragenden Frauen wurde das Gesetz aus der Taufe gehoben.
Ein Jahr zuvor hatten sich in einer Umfrage, die vom Radiosender „Europe 1“ in Auftrag gegeben worden war, 64 Prozent der Franzosen für ein gänzliches oder partielles Verbot der Burka ausgesprochen. Nur zehn Prozent waren der Meinung, daß man sich in diesem Belang nicht einmischen solle. Letzteres mag überraschen in einem Staat, der traditionell gelassen die Eigentümlichkeit seiner Mitmenschen – nach dem Motto: Laisser-faire, laisser-aller! oder Chacun à sa façon! (etwa: Gewährenlassen – jeder soll nach seiner Fasson selig werden.“) respektiert.
Franzosen haben schlichtweg Angst vor der Burka
Doch nicht wenige, meist ältere Franzosen und Französinnen, hatten auch eingeräumt, daß sie schlicht Ängste ergriffen, wenn sie Burkaträgerinnen im Supermarkt begegneten. Die Polizei hatte auch ihre Wünsche: sie möchte Gesichter mit dem Ausweisbild abgleichen können. Und die Kindergärtnerinnen wollten ihre Schutzbefohlenen nicht an unidentifizierbare Mütter abgeben. Verstöße gegen die Gesichtsoffenlegung können erst nach einer halbjährigen Frist – wenn das Gesetz am 11. Oktober 2011 vollumfänglich in Kraft tritt – geahndet werden. In der Zwischenzeit ist „Vermittlung“ und „Belehrung“ angesagt.
„Mein Schleier ist meine zweite Haut!“ begehrt Marie auf. Die Marseillerin ist 23 Jahre alt und hat sich entschlossen, sich über das Verbot des Vollschleiers (Niqab), der von ihrem Gesicht nur schmale Augenschlitze freiläßt, hinwegzusetzen. Bei einem Verstoß wird ein Bußgeld von 150 Euro für sie fällig, das sie jedoch durch die Teilnahme an einem Kurs in Staatsbürgerkunde teils oder zur Gänze zu mindern vermag.
Bis zu 30.000 Euro Strafe für „Anstiftung zur Verschleierung“
Als neuer Straftatbestand wird indes die „Anstiftung zur Verschleierung“ eingeführt, strafbewehrt mit einer Haftstrafe von bis zu einem Jahr oder 30.000 Euro. Drakonisch wird es, wenn sich die Straftat gegen eine Minderjährige gerichtet hat – dann kann jeweils das Doppelte anfallen. Das Verbot wird allerdings in öffentlich zugänglichen Kultstätten nicht angewandt werden. Die Burka in Moscheen – von denen es in Frankreich rund 2.000 gibt, darunter fünfzehn Großmoscheen; die übrigen sind häufig in Hinterhöfen und Kellern eingerichtet – ist also weiterhin zulässig.
Die ländlichen Gendarmen und städtischen Polizisten beschränken sich zur Jahresmitte 2011 zumeist noch auf unaufgeregtes Zuschauen. In Meaux aber wurden bereits publikumswirksam zwei aufmüpfige Burkaträgerinnen vor Gericht geladen. Beide betraten am Ende jedoch nicht den Gerichtssaal, denn die einzig Erschienene weigerte sich, der Aufforderung Folge zu leisten, ihre Burka abzulegen. Der Richter verweigerte ihr den Zutritt. Sie ließ wissen, daß die Burka „nicht verhandelbar“ sei.
Beide Frauen wollen zum Europäischen Gerichtshof ziehen und zeigen sich siegesgewiß. Und sie sind nicht die einzigen. Ein Paar aus Frankreich, das wegen des Verbots nach Großbritannien umgezogen ist, kündigte in diesen Tagen ebenfalls an, in Straßburg Klage einzureichen: Das Verbot des Ganzkörperschleiers verstoße gegen das Recht auf Religionsfreiheit und beschneide die Freiheit des Paares.
„Männer schauen uns wie Tiere an“
Im eleganten Gesellschaftsmagazin Paris Match ängstigt sich eine junge, arbeitslose Frau, die jetzt kaum mehr aus dem Hause geht: „Die Männer könnten meine Haare, meinen Hals sehen. Wir leben in einer Gesellschaft, in der Frauen als Sexualobjekte betrachtet werden, die Männer schauen uns wie Tiere an. Ich bin klaustrophob geworden, ich ertrage es nicht.“ Aus Verzweiflung versuchte sie es mit einer chirurgischen Maske; doch es scheine so, als wolle die Polizei ein medizinisches Attest sehen.
Trotzig betont sie, den Schleier niemals ablegen zu wollen, wodurch sie aber keine Arbeit fände, wie sie im gleichen Atemzug bedauert. Nicht wenige der seit Jahren Burka tragenden Frauen leiden wie sie, wegen der auferlegten Entkleidung, unter Isolation und ernstzunehmenden Depressionen. Ihr Leben erfährt in diesen Monaten eine jähe Wendung.
Andere Perspektive: Die französische Psychologin, Fernsehjournalistin und Künstlerin Bérengère Lefranc hatte sich im Sommer 2009 einem Burka-Selbstversuch unterzogen. Sie schrieb darüber ein vielbeachtetes Buch unter dem Titel „Un voile“ (frz. Schleier) und berichtete über verächtliche, manchmal ängstliche Blicke und Behinderungen beim Einkauf. „Ich wurde fast täglich auf der Straße beschimpft“, erklärte sie gegenüber Welt Online, „eine Frau hat mich angeknurrt wie einen Hund, mir wurde mehrfach aus wenigen Zentimetern ins Gesicht fotografiert.“
Doch als sie beim Rauchen entdeckt wurde, habe sie eine muslimische Frau angeschrieen: „Sie dürfen nicht rauchen, Sie gehören nicht zu uns und Sie werfen ein sehr schlechtes Bild auf unsere Kultur.“ Beinah wäre sie als mutmaßlicher Spitzel der französischen Regierung von einer aufgebrachten Menge tätlich angegriffen worden. Ihre Quintessenz: „Le voile appartient aux musulmans. Et il fait peur.“ („Der Schleier gehört den Muslimen. Und er macht Angst.“)
Busfahrer wird von Gästen als Rassist beschimpft
Aggressionen sind hier wie da anzutreffen: Die Muslime, vor allem ihre Oberen, poltern selbstbewußt. Und eine Gruppe junger Franzosen griff in wilder Verbalattacke eine junge Burkaträgerin in einem Zoo bei Paris an. Jüngstes Beispiel: Ein Busfahrer in Marseille verweigerte einer Burkaträgerin die Beförderung, weil sie ihren Schleier nicht lüftete, damit er deren Identität mit ihrem Fahrausweis-Foto abgleichen konnte.
Als diese seine Aufforderung zurückwies, weigerte sich der Chauffeur, die Fahrt fortzusetzen. Daraufhin beschimpfte ihn ein Teil der Fahrgäste als „Rassisten“ und er erhielt einen Faustschlag. Die Busgesellschaft äußerte sich dergestalt, daß ihre Fahrer nicht angewiesen seien, die Polizei zu ersetzen. Letztere kündigte indes an, daß die Frau eine Strafe für das Burkatragen zu erwarten habe.
Doch von neuen, spürbaren gesellschaftlichen Verwerfungen ist man weit entfernt. Die hat man ohnehin schon zur Genüge im Verhältnis der französischen Gesellschaft mit Muslimen. So wurde in einigen Départements der anonyme Lebenslauf eingeführt, da Menschen mit Vornamen wie Mohammed oder Ali von französischen Arbeitgebern belegbar gemieden werden.
Kleidungsriß mitten durch die Familie
In manchen muslimischen Familien geht der Kleidungsriß mitten hindurch. Doch manchmal ist der Riß ein Reißverschluß. Im Swimmingpool in Sainte-Maxime trifft man auch schon einmal auf zwei Schwestern, um die 20 Jahre alt; die eine streng verschleiert, mit Baby, die andere in Bikini, offenherziger Bluse, in vollfarbiger Dekoration junger Französinnen. Lippenstift inklusive. Wer nun annehmen mochte, die beiden seien über Kreuz miteinander, sah sich getäuscht: Beide waren sichtbar fröhlich, ganz ein Herz und eine Seele.
Auch wenn Präsident Sarkozy bei diesem Gesetz wahltaktische Manöver unterstellt werden, weil die erfolgreiche Vorsitzende des Front National, Marine le Pen, ihm gefährlich zu werden droht, so sollte man doch auch würdigen, daß Frankreich seit 1905 eine laizistische Republik ist und dies strikt handhabt. Ein gerüttelt Maß „Wehret den Anfängen“ mag somit hineingespielt haben, als ein Gesetz auf den Weg gebracht wurde, dessen letztes Kapitel wohl noch lange nicht geschrieben ist.
Wurde mit Kanonen auf Spatzen geschossen? Eine 82jährige Dame aus Marseille, frühere Lehrerin, meint: „Ich habe in den letzten Jahren wirklich nur ein einziges Mal eine vollverschleierte Muslimin gesehen, in der Metro. Persönlich finde ich, daß es nicht gut für eine Frau ist, wenn sie ihr Gesicht nicht zeigen kann, einen so wichtigen Teil ihres Körpers. Er gehört doch zum Menschen.“
JF 31-32