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Marc Jongen, ESN Fraktion

Zurück zur Selbstversorgung

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Reisen bildet. Wer kürzlich Gelegenheit hatte, die beiden größten Städte Lettlands, Riga und Libau (Liepāja), zu besuchen, gewann interessante Einblicke in europäische Befindlichkeiten. Vor drei Jahren meldete die seit 1991 unabhängige Baltenrepublik noch zweistellige Wachstumszahlen. Wer Kredit bekam, nutzte ihn. Schließlich, so hatte man gelernt, sind Schulden das Schmiermittel des Kapitalismus. Im Schuldendienst sah niemand ein Problem, nach dem EU-Beitritt 2004 schien die Ablösung des 1993 wiedereingeführten (völlig überbewerteten) Lats durch den Euro in greifbarer Nähe. Die unvermeidliche Inflation wurde ertragen.

Doch im Zuge der Weltfinanzkrise platzte auch die lettische Scheinblüte. Seit 2008 ist alles anders. Im März bekannte Regierungschef Valdis Dombrovskis, Lettland stehe „am Rande des Bankrotts“. Die Auslandsschulden sind mit etwa 130 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) die höchsten im östlichen EU-Gebiet – 90 Prozent der Kredite wurden laut Finanzminister Einars Repše in Euro aufgenommen. Repšes Ökonomen prognostizierten jetzt einen Wirtschaftsrückgang von 14,9 Prozent, die Arbeitslosigkeit werde die 20-Prozent-Marke übersteigen (JF 12/09).

Der Währungsfonds (IWF), Weltbank, EU und die skandinavischen Nachbarländer (deren Banken dort stark engagiert sind) haben Lettland insgesamt 7,5 Milliarden Euro an Hilfen versprochen – das entspricht 35 Prozent des lettischen BIPs. Bedingung: Die Regierung muß brutale Sparmaßnahmen durchsetzen. Die Etats der Hochschulen, die der Reisende besuchte, sind gerade um 40 Prozent (wie andere öffentliche Ausgaben auch) gekürzt worden. Zum Jahreswechsel gab es bereits eine 20prozentige Streichung. Entsprechend ist die Stimmung der Wissenschaftler – es geht an die Substanz. Einsparungen bei den Personalkosten sind unvermeidlich.

Der Rektor der Universität Libau ließ die Heizung abstellen, so daß im wesentlich kälteren Teil Europas die Seminarteilnehmer ihre Mäntel anbehalten. Was sonst noch kommt, wenn etwa das ohnehin niedrige Arbeitslosengeld gekürzt wird, mag sich niemand ausmalen. Die Finanzkrise schlägt auf alle Bereiche durch. Der Inhaber eines früher gutgehenden Restaurants in einer eher bürgerlichen Wohngegend Rigas beklagt einen Umsatzrückgang um 20 Prozent. Dennoch ist er optimistisch – seine Kundschaft besteht überwiegend aus Russen, die in Lettlands Hauptstadt in der Mehrheit sind. Darunter sind viele ehemalige Funktionäre der KPdSU und Offiziere der Sowjetarmee. Sie erhalten aus Moskau Pensionen, die oft höher sind als die Renten, die das unabhängige Lettland ihnen zahlt. Wem ihre Loyalität noch immer gehört, läßt sich denken. Aber wird Rußland, dessen Devisenreserven wegen der gesunkenen Erdöl- und Gaspreise abschmelzen, noch lange so üppig zahlen?

Einstweilen versucht sich der smarte lettische Gastronom Entlastung zu verschaffen, indem er statt westlicher Importprodukte wieder Gemüse aus seiner Datscha außerhalb Rigas verarbeitet und die Erzeugnisse seiner privaten Räucherei verkauft. Notfalls könne er diesen Geschäftszweig noch ausbauen. Auch andere Gesprächspartner besinnen sich alter Überlebensstrategien, die sie unter dem Sowjetsystem gelernt haben.

Der deutsche Reisende verläßt Lettland mit gemischten Gefühlen. Sicher: Deutschland hat weit mehr Substanz als das viel kleinere und in der Sowjet-union drangsalierte Lettland. Beide Staaten sitzen aber inzwischen in der EU im selben Boot. Deutsche Banken zählen mit einem Anteil von etwa zehn Prozent zu den größten Gläubigern Lettlands (wie auch in den Fällen Ungarn oder Ukraine). So drängt sich in schlaflosen Nächten der Eindruck auf, man könnte in Lettland auch einen Blick in die deutsche Zukunft getan haben.

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