Der Publizist Henry M. Broder will Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland werden. Seine Erfolgsaussichten sind gering, trotzdem stellt seine Kandidatur für den Zentralrat eine Herausforderung dar. Denn der scharfzüngige Polemiker ist entschlossen, eine Diskussion über den Zustand, das Selbstverständnis und die öffentliche Funktion dieses Gremiums loszutreten. Für die Amtsinhaber kann das unbequem und schmerzhaft werden. Gegenwärtig ist ein Amt im Zentralrat – frei nach Franz Müntefering – „schöner als Papst“. Der Unsinn, den Generalsekretär Stephan Kramer verzapft, kann noch so groß und boshaft sein – niemals würde die Kanzlerin es wagen, ihn vergleichbar rüde anzugehen wie Benedikt XVI.
Überwiegend irritiert äußert sich die Presse, die Broders Vorhaben „nicht ganz koscher“ findet (Die Zeit). Das ist verständlich, denn wenn Broder über den „erbärmlichen Zustand“ und den „kleinkarierten Größenwahn“ des Zentralrats ätzt, denn meint sein Hohn auch die Presse, die dessen Fehlentwicklung unkritisch begleitet, ja hofiert hat.
Der Zentralrat vertritt rund 120.000 Mitglieder der jüdischen Gemeinde. Es sei nicht seine Aufgabe, so Broder, „den übrigen 79,9 Millionen Deutschen vorzuschreiben, wie sie mit ihrer Geschichte umgehen sollten“. Sein Anspruch, „das gute Gewissen Deutschlands“ und eine „Reue-Entgegennahme-Instanz“ zu verkörpern, führe zu einer Inflationierung der Stellungnahmen. Dadurch würden sie beliebig. Spektakulär ist Broders Ankündigung, sich als Präsident „dafür einzusetzen, daß Holocaust-Leugnung als Straftatbestand aufgehoben wird“. Über Charlotte Knobloch schreibt er: „Die Präsidentin – intern ‘Tante Charly’ genannt – scheint von dem Job überfordert“, was eine milde Umschreibung für die Sinnfreiheit und das syntaktische Nirvana ist, in denen Knoblochs öffentliche Äußerungen sich verlieren. Noch schärfer fällt seine Kritik an Kramer aus, den eifernden Konvertiten mit geliehenem Opfererbe, welcher der Hauptverursacher der inflationierten Wortmeldungen ist.
Broder, der die gesellschaftlichen Realitäten nicht aus der abgehobenen Funktionärsperspektive wahrnimmt, räumt ein, daß zwischen der veröffentlichten und der Alltagsrezeption des Zentralrats eine Lücke klafft. Auf die Servilität der Politiker und vor allem der Journalisten ist zwar stets Verlaß, aber unterhalb dieser Ebenen verdrehen immer mehr Leute genervt die Augen. Das Gremium erinnert ein wenig an die Hauptfigur in E. T. A. Hoffmanns Erzählung „Klein Zaches, genannt Zinnober“: Zaches ist ein schnarrender, übellauniger Gnom, dem aber ein wohlmeinender Zauber dazu verhilft, daß immer, wo er auftaucht und sich äußert, die Menschen einem elementaren Zwang erliegen und die Schönheit, den Geist und den stimmlichen Wohlklang ihres „göttlichen Zinnober“ preisen – und zwar exakt bis zu dem Zeitpunkt, an dem der Zauber erlischt. Genau diese Empfindung drückt Broder in dem Satz aus: „Liebesbeweise, die erzwungen werden, sind keine.“
Kritik an ihm kommt unter anderem von Michel Friedman. Seinen eigenen Traum von der Präsidentschaft mußte Friedman 2003 aufgeben, als bekannt wurde, daß er sich an zwangsprostituierten osteuropäischen Frauen vergriffen hatte. Friedman wirft Broder die Diffamierung des Führungspersonals vor und tritt vehement gegen die Abschaffung oder Modifizierung des Volksverhetzungs-Paragraphen 130 ein. Das ist kein Wunder, denn seine genußvoll zelebrierte rhetorische Überlegenheit hängt mit dem politischen, ideologischen und juristischen Einschüchterungspotential zusammen, das sich unter anderem im Paragraphen 130 niederschlägt. Das trifft in Abstufungen auf weitere Wortführer zu. Nichts wäre falscher, als Broder zu einem Gegenbild und zum unbedingten Vorkämpfer des freien Wortes zu erheben, doch immerhin schätzt er die Situation in Deutschland realistischer ein.
Er hat erkannt, daß institutionalisierte Einschüchterung, geschichtspolitische Indoktrination und abgepreßte Schuldbekenntnisse zu einer Sklavenmoral geführt haben, die den Selbstbehauptungswillen gegen das Ausgreifen des Islamismus sabotiert. Wie Ralph Giordano spürt er, daß der Antifaschismus, an dem er eigentlich nichts auszusetzen hat, zur Funktion einer machtbewußten Religion mutiert und auf diesem Umweg seine Kinder zu fressen beginnt. Diese Entwicklung hält Broder gerade in bezug auf die Juden für viel gefährlicher als den überwiegend virtuellen Neonazismus und Antisemitismus deutscher Provenienz.
In seinem Buch „Hurra, wir kapitulieren“ hat er Belege dafür versammelt. Und er verfügt über genügend Menschen- und interne Betriebskenntnis, um zu wissen, daß – im Falle eines Falles – vom vermeintlich demokratischen, engagierten Journalismus nur dessen Feigheit und opportunistische Geschmeidigkeit übrigbleiben werden.
Unsinnig ist allerdings seine Behauptung, „daß es keine partikularen jüdischen Interessen gibt“, nur Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat, die offensiv verteidigt werden müßten. Wenn Broder „eine aktive Politik im Dienste der Menschenrechte ohne politische Rücksichtnahme auf wirtschaftliche Interessen“ anmahnt, dann entspringt das keinem idealistischen Überschwang und keiner politischen Romantik, sondern zielt auf die Unterstützung der Politik Israels ohne Wenn und Aber. Seine Glossen zum Nahostkonflikt, zu den Kriegen in Afghanistan und Irak sowie zur angeblichen Atomrüstung des Iran sprechen Bände. Dabei scheut er, der militärische Laie, auch nicht die giftige Attacke auf den renommierten israelischen Militärexperten Martin van Creveld, der geschrieben hat: „Israel überhöht die Bedrohung durch den Iran aus strategischem Interesse.“ Vom Größenwahn ist auch Broder befallen.
Die Überwindung der deutschen Unterwürfigkeit hält Broder in dem Maße für wünschenswert, wie sie den von ihm favorisierten Partikularinteressen nützt. Jenseits davon greift er gleichfalls zur Antisemitismuskeule. Das erlebte Evelyn Galinski-Hecht, die Tochter des langjährigen Vorsitzenden des Zentralrats, die Broder an Bekennerdrang und Eloquenz kaum nachsteht. Als sie die Diskriminierung, Vertreibung und Enteignung der Palästinenser durch Israel als friedensgefährdend und das Schweigen Deutschlands als verlogen und unwürdig anprangerte, verbreitete Broder, sie sei für ihre „antisemitischen Statements“ bekannt. Diese Aussage wurde ihm vom Gericht verboten. Nach einem ähnlichen Prozeß höhnte er: „Es bleibt der Hautgout, daß die Erben der Firma Freisler entscheiden, was antisemitisch ist und was nicht“ – in der richtigen Annahme, daß kein Gericht es wagen würde, deswegen einer Beleidigungsklage stattzugeben. Das ist tatsächlich ein „nicht ganz koscheres“ Verfahren: Mißstände wie die Dauerfixierung auf das Dritte Reich anzuprangern und unter der Hand an ihrer Zementierung zu arbeiten, weil sonst sein Exklusivrecht auf Kritik wertlos würde.
Doch was soll’s: Broder hat nie von sich behauptet, ein Heilsbringer zu sein. Er ist ein trolliger und eitler Querkopf, im Grau in Grau der deutschen Publizistik ein wirklicher Farbtupfer und eben deswegen nicht präsidiabel. Letzteres mag man sogar bedauern.
Foto: Henryk M. Broder: Ein wirklicher Farbtupfer im Grau in Grau der deutschen Publizistik