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Panikattacken und Jubelarien

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Nach dem Beginn einer neuen Ära roch es am vergangenen Sonntag in Berlin nicht. Auf zahlreichen „Wahlpartys“ in Parteizentralen, Landesvertretungen und Firmen-Repräsentanzen herrschte zumeist von gelegentlichem Höflichkeitsapplaus unterbrochene Langeweile. Nur bei den Sozialdemokraten gab es Panikattacken und bei der FDP das Gegenteil, nämlich Jubelarien. Aber einem Vergleich mit der Aufbruchstimmung zu Beginn der Regierungszeit von Helmut Kohl 1983, für die mit dem Begriff der „geistig moralischen Wende“ geworben worden war, hielt der Abend in Berlin nicht statt. Das politische Deutschland hat nur eine Etappe auf dem Weg zu einem anderen Parteiensystem erreicht, aber keine Wende vollzogen.

Auch die Anmerkungen der CDU-Wahlsiegerin Angela Merkel, die jetzt mit Guido Westerwelles FDP eine Regierung mit einer satten Mehrheit (auch dank Überhangmandaten der CDU und CSU) bilden kann, dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich Gewichte verschoben haben. „Wir haben etwas Tolles geschafft. Wir haben es geschafft, unser Wahlziel zu erreichen, eine stabile Mehrheit in Deutschland zu schaffen in einer neuen Regierung“, erzählte sie am Wahlabend.

Die 33,8 Prozent, die Merkels Union deutschlandweit erreichte, bedeuten nämlich das zweitschlechteste Ergebnis der Unionsgeschichte. Nur 1949, als das Parteiensystem im weitgehend zerstörten Westdeutschland noch nicht gefestigt war, hatte die Union schlechter abgeschnitten. Doch am Wahlabend im Konrad-Adenauer-Haus wurden lieber andere Punkte diskutiert: Wegen der Überhangmandate steigt die Sitzzahl der Union im neuen Bundestag von 222 auf 239. Erheblich mehr Unionspolitiker haben damit mit der Politik ihr geregeltes Einkommen. Und daß man gegenüber der Wahl 2005 1,4 Prozentpunkte verloren hatte, wurde der CSU in die Schuhe geschoben, die in Bayern schwer eingebrochen war.

Übersehen wurde nur zu gerne, daß der gesamte Süden der Republik, der früher die Defizite der CDU im Norden und Osten mit Rekordergebnissen ausglich, für CDU und CSU Durchschnittsgebiet geworden ist. Die CDU stürzte in Baden-Württemberg von 39,2 auf 34,4 Prozent ab, die CSU verlor in Bayern 8,2 Punkte und blieb bei 42,6 Prozent stecken. Frühere CSU-Vorsitzende wie Theo Waigel und Erwin Huber waren bei wesentlich besseren Ergebnissen zurückgetreten. Horst Seehofer denkt jedoch (noch) nicht daran, auch wenn Vorgänger Huber das Ergebnis als „Katastrophe“ und „Desaster“ bezeichnete. Ein Nachfolger drängt sich auf. Wirtschaftsminister Karl Theodor zu Guttenberg holte in seinem Wahlkreis Kulmbach gegen den allgemeinen Minustrend acht Prozent mehr Erststimmen. Guttenberg, so hieß es auf der schnell beendeten Wahlparty der CSU in München, sei für jeden Posten geeignet – eine Allzweckwaffe wie weiland Strauß oder Stoiber, nur besser aussehend und mit Adelsprädikat.

Warum sich die schwarzen Festungen im Süden auflösten wie Sandburgen bei Flut, dürfte an der mangelnden Ausstrahlung der CDU und der CSU auf marktwirtschaftlich orientierte, konservative und katholische Wählerschichten liegen. Letztere dürften nach Merkels Attacken auf den Papst nicht mehr wählen gegangen sein, andere sich zur FDP geflüchtet haben, die mit 93 Abgeordneten die größte liberale Fraktion aller Zeiten stellt. Interessant ist aber in diesem Zusammenhang auch, daß die CDU in den neuen Ländern leicht zulegen und ihre Verluste im Westen in Grenzen halten konnte. So verbuchte die NRW-CDU 33,1 Prozent und damit nur 1,3 Prozent weniger als vor vier Jahren.

Wie sehr sich die Lage verändert hat, zeigt ein Vergleich der Prozente mit der zweiten gesamtdeutschen Wahl 1994 (die erste erscheint angesichts der Kohl-Euphorie nicht vergleichbar). Damals holte die CDU/CSU 41,4 statt heute 33,8 Prozent. Die jetzt auf 14,6 Prozent aufgeblähte Westerwelle-FDP notierte damals bei 6,9 Prozent. Aber die SPD holte 1994 noch 36,4 Prozent – ein Wert, den sie 1998 sogar auf 40,9 Prozent steigern konnte. Jetzt kamen Franz Münteferings Sozialdemokraten gerade noch auf 23 Prozent.

Einzelne SPD-Ergebnisse zeigen, daß sich das linke Spektrum in Deutschland in drei Lager aufgeteilt hat. In den neuen Ländern liegt die Linkspartei regelmäßig vor der SPD, in Brandenburg und Sachsen-Anhalt ist die SED-Nachfolgepartei sogar stärkste politische Kraft. Die SPD ist nur noch im Stadtstaat Bremen stärkste Kraft, in vielen westdeutschen Regionen liegt sie sogar hinter der FDP oder den Grünen. Wenn die SPD aus Bayern 16 Abgeordnete nach Berlin entsendet und die FDP 14, dann ist das fast ein Gleichstand, und der Anspruch der SPD, Volkspartei zu sein, hat sich erledigt.

„Das ist ein bitterer Tag für die deutsche Sozialdemokratie“, befand denn auch SPD-Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier am Wahlabend. Die politische Karriere des scheidenden Außenministers dürfte sich dem Ende zuneigen, auch wenn er zunächst die Fraktionsführung der kleinsten SPD-Fraktion aller Zeiten übernimmt. Auch die Laufbahn von Parteichef Franz Müntefering dürfte zu Ende gehen. Jüngere Sozialdemokraten wie Andrea Nahles („Ein ‘Weiter so’ darf es nicht geben“) warten nur darauf, die SPD zu übernehmen und sie in einen rot-rot-grünen Verbund zu steuern. Der Berliner Bürgermeister Klaus Wowereit könnte in vier Jahren Spitzenkandidat einer rot-rot-grünen Formation werden.

Die Grünen verbesserten sich zwar auf 10,7 Prozent, kamen jedoch an den Linken und der FDP nicht vorbei. Sie bleiben eine typische Partei linker großstädtischer Milieus. Der Wiederaufstieg der SED-Nachfolger ist der Fusion mit der WASG zu verdanken. Oskar Lafontaine und Gewerkschafter wie Klaus Ernst nahmen der Bisky/Gysi-Truppe den DDR-Geruch und machten sie für größere Kreise wählbar.

Auf der bürgerlichen Seite sollte sich Westerwelle vor der Annahme hüten, nur er allein werde das Erbe eines Teils der zerfleddernden Union antreten können. Die Gesellschaft verändert sich. In vielen europäischen Ländern sieht man neue Parteien wachsen. Das kann auch in Deutschland blitzschnell geschehen. Und die nächste neue Kraft müssen nicht unbedingt die Piraten sein.

Foto: Nahles, Steinmeier, Müntefering (v.l.n.r.) am Montag in Berlin: Machtwechsel im Willy-Brandt-Haus

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