Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Lissabon-Vertrag ist von Befürwortern wie auch von Gegnern der EU-Reform als Bestätigung der eigenen Positionen bezeichnet worden. Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte in einer ersten Reaktion am Dienstag in Berlin, der Vertrag habe mit dem Karlsruher Urteil „eine weitere wichtige Hürde genommen“, da das Gericht die Vereinbarkeit von Grundgesetz und Lissabon-Vertrag festgestellt habe.
Merkel äußerte sich erleichtert, daß sich die Koalitionsfraktionen darauf verständigt hätten, eine Überarbeitung des Begleitgesetzes noch in dieser Legislaturperiode umzusetzen. „Ich hoffe, daß das gelingt“, sagte Merkel. Die Kanzlerin erwartet, daß die erforderlichen Gesetzesänderungen noch im Laufe des Sommers in Kraft treten. Wenn Bundestag und Bundesrat wie geplant im August und September die vom Bundesverfassungsgericht verlangten Gesetzesänderungen (siehe Kasten) beschließen, könnte nach dem Willen Merkels der Vertrag von Lissabon rechtzeitig vor Ende des Jahres in allen Staaten der EU ratifiziert sein.
Michael Stübgen, europapolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, kündigte an, man werde das Urteil prüfen und „umgehend die erforderlichen Konsequenzen für die notwendigen Klarstellungen im Begleitgesetz ziehen“, damit der Ratifizierungsprozeß in Deutschland noch vor der Bundestagswahl abgeschlossen werden könne.
Laut Stübgen hat Karlsruhe „klar zum Ausdruck gebracht, daß die Übertragung von nationalstaatlichen Zuständigkeiten auf die Europäische Union nicht zu einer Entstaatlichung der Bundesrepublik Deutschland geführt hat und weder das Sozialstaatsprinzip noch die Entscheidungshoheit des Bundestages beim Einsatz der Streitkräfte ausgehöhlt werden“. Der Vertrag von Lissabon erweitere zwar die Zuständigkeiten der EU, mache „diese jedoch zugleich demokratischer, indem er die Mitentscheidung des Europäischen Parlamentes und der nationalen Parlamente verbessert“.
Auch die stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagfraktion, Angelica Schwall-Düren, sieht im Urteil des Bundesverfassungsgerichts die Verfassungsmäßigkeit des Lissabon-Vertrages bestätigt. Die Sozialdemokraten hätten sich „von Beginn an für die Stärkung der Rechte des Bundestages eingesetzt“ und sähen durch das Urteil ihre „Position nachdrücklich“ gestützt. Auch Schwall-Düren gab sich überzeugt, daß der Zeitplan für die Ratifizierung noch eingehalten werden könne.
Ihr Parteifreund Gert Weisskirchen meinte in einer ersten Stellungnahme, daß die „national-orientierte Allianz aus Linkspartei und konservativen Europakritikern, -skeptikern und -gegnern mit ihrem Vorhaben, den Lissabon-Vertrag zu Fall zu bringen“, gescheitert sei. Nach Ansicht des außenpolitischen Sprechers der SPD-Bundestagsfraktion war dies zu erwarten, „da das Grundgesetz die Abtretung von Souveränitätsrechten an internationale Organisationen vorsieht“.
Dagegen hat nach Ansicht der Linkspartei, die zu den Klägern gegen den Lissabon-Vertrag gehört, das Bundesverfassungsgericht „der Bundesregierung und der Mehrheit des Bundestages eine demokratische Nachhilfestunde erteilt“. Daß der Ratifizierungsprozeß des EU-Vertrages durch die Verfassungsrichter gestoppt wurde, belege, „wie gravierend die Beteiligungsrechte von Bundestag und Bundesrat verletzt worden sind“. Man sehe sich durch das heutige Urteil bestärkt, „daß der Lissabon-Vertrag keine ausreichende Grundlage für ein soziales, demokratisches, friedliches Europa legt und dringend nachbesserungsbedürftig ist“.
Klaus Buchner, der Bundesvorsitzende der Ökologisch-Demokratischen Partei (ÖDP) und ebenfalls einer der Kläger gegen den Vertrag, äußerte sich weit weniger euphorisch: Seiner Meinung nach gefährde das Urteil die Demokratie sowie den Sozialstaat in Deutschland. Zwar wurden „die schlimmsten Folgen des Vertrags abgemildert“, aber nach wie vor stehe der Lissabon-Vertrag „über dem deutschen Grundgesetz“. Buchner befürchtet, daß die „unter dem unmittelbaren Einfluß von Wirtschaftsverbänden“ in Brüssel verabschiedeten Gesetze noch stärker gegen die Interessen der Bürger gerichtet sind.
Auch der CDU-Bundestagsabgeordnete Willy Wimmer, der ebenso wie sein Kollege Peter Gauweiler (CSU) gegen den Vertrag geklagt hat, nannte gegenüber dem Spiegel das Karlsruher Urteil eine Entscheidung „von historischer Bedeutung“. Damit sei die „Substanz des deutschen Rechtsstaates und des Selbstbestimmungsrechts des deutschen Volkes auf dem Weg zu dem von uns nachdrücklich gewünschten freiheitlichen, friedlichen und sozialen Europa gewährleistet“, sagte der langjährige Bundestagsabgeordnete.
Peter Gauweiler, der mit Wimmer die Minderheit der Lissabon-Gegner in der Unionsfraktion repräsentiert, nannte das Urteil im Interview mit dem Münchner Merkur eine „Sternstunde für die Demokratie in Deutschland“. Er sei dankbar, daß damit „endlich eine alte Streitfrage“ geklärt sei: Würde sich die Europäische Union zu einem Bundesstaat entwickeln, „wäre in Deutschland auf jeden Fall eine Volksabstimmung erforderlich“, meinte der Christsoziale. Gauweiler sieht im Spruch der Karlsruher Richter für das deutsche Parlament vor allem die „Chance zu einem Neubeginn“. Da passe es ganz gut, daß im September ein neuer Bundestag gewählt wird.
Foto: Peter Gauweiler in Karlsruhe: „Sternstunde der Demokratie“