Der Große Hadronen-Speicherring (LHC), der größte Teilchenbeschleuniger der Welt bietet sich als Metapher für die derzeitigen Ereignisse geradezu an. Lediglich technische Störungen verhinderten vor einigen Wochen, daß zwei Protonenstrahlen knapp unterhalb der Lichtgeschwindigkeit in Genf miteinander kollidierten. Von einem Gelingen des Experiments hatten sich Wissenschaftler empirische Beobachtungen erhofft, die manche Fragen der modernen Physik hätten beantworten können. Wäre alles schiefgegangen, so befürchteten Versuchsgegner, dann wäre das gesamte Universum womöglich in einem Schwarzen Loch verschwunden. Erfreuliche Aussichten sind das: Entweder freuen sich ein paar Wissenschaftler, oder die Welt ist plötzlich nicht mehr da. Währenddessen machte sich oberhalb der Erdoberfläche nicht nur die Schweizer Bankwelt Sorgen um ein anderes Schwarzes Loch, das die globalen Finanzmärkte und die Weltwirtschaft ins Nirgendwo saugen könnte. In Washington hielt der US-Kongreß daher letzte Woche Kriegsrat über ein 700-Milliarden-Rettungspaket für die Banken, während sich die Präsidentschaftskandidaten Barack Obama und John McCain auf ihr erstes Fernsehduell vorbereiteten. Der Bush-Plan sah vor, daß die US-Steuerzahler hypothekengestützte Sicherheiten aufkaufen sollten, die wegen der Subprime-Krise unattraktiv geworden waren. Denn bevor die Immobilienblase platzte, hatten die Banken Hypothekenpakete geschnürt, die sie an der Wall Street verkauften. Dort wurden sie zu Tranchen umstrukturiert, komplexen Derivaten, die sich aus teils sicheren, teils sehr riskanten Krediten zusammensetzen. Als die Blase platzte, blieben die Banken auf den faulen Finanzpapieren sitzen. Der Versuch, sie auf einmal loszuwerden, löste eine Panik auf den Märkten aus. Die blitzartige Verteuerung der Kreditversicherungen gegen Ausfallsrisiken bedeutete den Bankrott des einst weltgrößten Versicherungskonzern AIG. Die Bankenpleiten begannen mit Bear Stearns, gefolgt von Lehman Brothers und Washington Mutual, während andere Großbanken ihre Kreditvergabeverfahren zu konsolidieren begannen. Das nun verabschiedete Rettungspaket soll die Panikwelle eindämmen, indem der Staat als Bürge für die faulen Schulden auftritt, die im Markt für komplexe Derivate verborgen waren. Wenn die Kreditmärkte sich in einigen Jahren wieder normalisieren, so die Theorie, könnte der Staat an den Schuldpapieren, deren Kursabfall zuvorderst der Angst geschuldet war, sogar Gewinne machen. Und obwohl beide den Rettungsplan unterstützten, gewann man beim Fernsehduell zwischen Obama und McCain den Eindruck, keiner der Kandidaten wolle sich eindeutig dazu äußern. Auf Nachfrage des Moderators Jim Lehrer forderte Obama mehr staatliche Aufsicht über die Finanzmärkte und stellte dann schlicht fest, 700 Milliarden Dollar sei „eine Menge Geld“. McCain drückte sein Bedauern über die schwere Krankheit seines guten Freundes und Senatskollegen Ted Kennedy aus, um dann Churchills Worte zu verdrehen, dies sei „nicht der Anfang der Krise, aber es ist das Ende vom Anfang“. Entnervt wiederholte Lehrer seine eigentliche Frage: „Wie stehen Sie zu dem Rettungspaket?“ In der Folge nahm die Qualität der Redebeiträge stetig ab. McCains Problem bestand darin, daß bei dieser Debatte eigentlich die Außenpolitik auf dem Programm stand. Doch die Bankenkrise hatte mittlerweile Ausmaße angenommen, die sich nicht ignorieren ließen. Seit Wochen ist McCain immer wieder bei dem Versuch gescheitert, eine eindeutige Aussage zur Wirtschaftslage zu machen. Am 15. September, dem Tag nach der Lehman-Pleite und der Übernahme von Merrill Lynch durch JP Morgan, verkündete er: „Die Grundlagen unserer Wirtschaft sind solide.“ Diese gute Nachricht nahm er dann umgehend zurück, um drei Tage später die Wall Street zu beschimpfen und die globalen Finanzmärkte als „Spielkasino“ zu bezeichnen. Vor allem galt McCains Zorn Christopher Cox, dem Chef der 1934 gegründeten US-Börsenaufsicht SEC. „Wenn ich Präsident wäre, würde ich ihn rausschmeißen“, sagte er — dabei liegt das gar nicht in der Befugnis des Präsidenten. Als Beispiele der Kasino-Mentalität nannte McCain dann Fannie Mae und Freddie Mac, die beiden halbstaatlichen Hypothekenriesen, die das US-Finanzministerium am 7. September seiner Vormundschaft unterstellt hatte. Auch dieser Angriff zeugte nicht gerade von finanzpolitischem Durchblick — immerhin unterlagen beide vor ihrer Übernahme strenger Regulierung, während die faulen Kredite zumeist von privaten Banken vergeben worden waren. Seinen Rivalen Obama beschuldigte McCain, dieser habe dem Ex-Fannie-Mae-Chef Franklin Raines ein Beraterhonorar gezahlt und dafür hohe Wahlkampfspenden von dem Unternehmen erhalten. Beide Vorwürfe erwiesen sich als unrichtig. Statt dessen deckte die New York Times am 23. September auf, daß McCains finanzpolitischer Berater Rick Davis im Namen seines Unternehmens seit Ende 2005 bis zum Zeitpunkt der Übernahme der Banken durch den Staat ein monatliches Beraterhonorar von 15.000 Dollar erhalten hatte. Im Zuge dieses Hickhacks zeigte sich, daß McCain tatsächlich wenig von Wirtschaftspolitik versteht, wie er einmal zugegeben (aber anschließend dementiert) hat. Als Bushs Finanzminister Henry Paulson am 21. September seinen Rettungsplan bekanntgab, ging der Zirkus erst richtig los. Ein paar Tage später bekannte McCain, den Milliarden-Plan nicht gelesen zu haben. Das war Wasser auf die Mühlen der Spötter: Da er nach eigenem Bekunden nicht mit Computern umgehen könne, warte er wohl darauf, daß Western Union ihm das dreiseitige Schriftstück als Telegramm überbringe, wurde geunkt. Obwohl die TV-Debatte für Freitag, den 26. September anberaumt war, beschloß McCain seinen Wahlkampf zu unterbrechen und am Mittwoch nach Washington zu fliegen, um bei der Verabschiedung des umstrittenen Gesetzentwurfs zu helfen. In dieser „nationalen Krisenstunde“ müsse er notfalls das Fernsehduell verschieben, verkündete er — als hielte er sich für einen Superhelden wie aus dem Comic, der nach Washington fliegen und sein Land retten wollte. Mit seiner Hilfsbereitschaft schuf er nur zusätzliche Komplikationen, indem er dem Entwurf in letzter Minute noch Ergänzungen hinzuzufügen versuchte. George W. Bush drang verzweifelt auf eine Annahme des ersten Entwurfs, der dann an einer gemeinsamen Revolte rechter Republikaner und linker Liberaler im Repräsentantenhaus scheiterte. An diesem Schwarzen Montag fiel der Dow-Jones-Index um 777 Punkte, erholte sich aber am nächsten Tag um 485 Punkte. Erst nach diversen Änderungen, der Zustimmung des Senats und einer dramatischen Rede der Demokratin Nancy Pelosi, der Sprecherin des Repräsentantenhauses, wurde der Paulson-Plan gegen die Stimmen der rechten Republikaner vorigen Freitag schließlich angenommen. Während die Weltmärkte am Rande des Zusammenbruchs standen, nahm McCains Wahlkampf eine noch absurdere Wendung, als der Kandidat zwei Tage später einen Fernsehauftritt in der beliebten Talkshow von David Letterman absagte. Mit einem Video, in dem zu sehen war, wie McCain am selben Nachmittag für ein Interview mit Katie Couric, einer anderen beliebten Fernsehmoderatorin, geschminkt wurde, konnte Letterman einen Coup landen. Wie sich herausstellte, versuchte McCain politische Schadensbegrenzung zu betreiben: Kurz zuvor hatte Couric seine Vizepräsidentschaftskandidatin Sarah Palin für eine spätere Sendung interviewt, und es war an die Presse durchgesickert, daß schon elementare Fragen zur Politikgestaltung die Gouverneurin von Alaska ins Stolpern gebracht hatten. Daraufhin hatte Kathleen Parker in der konservativen Zeitschrift National Review an Palin appelliert, sich aus dem Rennen zurückzuziehen, um McCain zu retten, denn sie sei „eindeutig überfordert“. Am Ende dieser wochenlangen Wahlkampfmisere lag McCain in Umfragen sieben Punkte hinter Obama. In den Swing States, in denen sich der Wahlkampf letztlich entscheidet, war der Abstand freilich weit geringer. Und bei dem Fernsehduell schlug sich McCain insgesamt wacker. Er punktete in außenpolitischen Fragen, indem er gegen seinen unerfahrenen Kontrahenten stichelte. Anstatt sich gegen McCains herablassenden Ton zu verwahren, entschied Obama sich für ein Auftreten, das selbstsicher und kompetent, aber dabei leidenschaftslos wirkte. Die meisten Experten sprachen daher von einem Unentschieden. McCains eigentliches Dilemma geht über seine fast schon komischen Fehltritte inmitten der schwersten Wirtschaftskrise seit den 1930er Jahren hinaus: Daß die schlechte Wirtschaftslage Obama zum Vorteil gereicht, liegt in der Natur der Dinge. Das Chaos in der Wall Street hat eine Revolte in der Main Street — dort, wo die amerikanischen Normalverbraucher wohnen — gegen die Exzesse des unregulierten Kapitalismus ausgelöst. Die Palin-Blase ist ebenfalls geplatzt. Zwar halten vor allem Amerikanerinnen mittleren Alters — die sie als „eine von uns“ betrachten — Palin nach wie vor für einen liebenswerten Menschen, doch herrschen schwere Zweifel an ihrer Eignung für ein hohes Regierungsamt. Der Versuch, sie von der Presse fernzuhalten, war eine unkluge Entscheidung. Anfang Oktober hatte sie noch keine einzige große Pressekonferenz abgehalten — im selben Zeitraum stand Obamas Vizepräsidentschaftskandidat Joe Biden dem Journalistenrudel 89 Mal Rede und Antwort. Daß eine Kandidatin, die womöglich zur „Führerin der freien Welt“ aufsteigen könnte, für die Medien nicht ansprechbar ist, weckt wenig Vertrauen bei noch unentschiedenen Wählern. Auch im TV-Duell mit Biden konnte Palin erneut nur ihre treuen Anhänger begeistern. Für das Duo McCain/Palin war der September alles andere als ein goldener Herbstanfang. Bis zum alles entscheidenden 4. November bleiben ihnen indes noch fünf Wochen, in denen sich die Wirtschaftslage verbessern und auch sonst noch allerhand Unvorhergesehenes geschehen könnte. Und solange der Genfer Teilchenbeschleuniger außer Betrieb ist, besteht wenigstens kaum Gefahr, daß unser Universum in einem Schwarzen Loch verschwindet. Prof. Dr. Elliot Neaman lehrt Neuere europäische Geschichte an der University of San Francisco. Foto: Sarah Palin und John McCain: Der Kandidat punktete nur in außenpolitischen Fragen gegen Obama, sie überzeugte zu wenige Wechselwähler