Vor einem Jahr sah es noch so aus, als könnten die Gegensätze zwischen der Türkei und der Kurdischen Regionalregierung (KRG) im Nachbarland Irak zu einem militärischen Konflikt eskalieren. Seit einigen Monaten aber ist eine wendige Politikmixtur aus weniger Konflikt und mehr Kooperation zwischen Ankara und Hewlêr (Arbil), der Hauptstadt des irakischen Bundeslands Kurdistan, angesagt: Zwar schickt die Türkei immer noch mit einer gewissen Regelmäßigkeit Kampfflugzeuge ins Nachbarland, um wirkliche oder vermeintliche Schlupfwinkel der PKK zu bombardieren, die seit bald 30 Jahren in der Osttürkei für die Rechte der unterdrückten Kurden kämpft. Immer wieder aufs neue warnt Ankara auch vor der Unabhängigkeit der fünf Millionen Kurden des Irak und vor der Durchsetzung von deren Anspruch auf die erdölreiche Region Kerkûk (Kirkuk). Doch parallel dazu hat die Türkei ihre Beziehungen zur irakischen Kurdenregion ausgebaut und beinahe freundschaftlich vertieft. Oytun Çelik, Türkeiexperte der International Crisis Group (ICG), einer renommierten nichtstaatlichen Institution, die Analysen und Lösungsvorschläge zu internationalen Konflikten liefert, erkennt hinter dieser Politik die Chance für weiterreichende Lösungen: „Sowohl die Türkei als auch die Kurdische Regionalregierung haben einen Durchbruch in der Überwindung ultranationalistischer Positionen geschafft. Sie sollten nunmehr die neugewonnenen Beziehungen ausbauen, die sich schon jetzt als sehr ertragreich erwiesen haben.“ Ankara verspricht sich von dieser Politik positive Wirkungen für seine politischen Kernziele gegenüber dem Irak: den Erhalt von dessen territorialer Integrität und die Zusammenarbeit bei der Eindämmung und Bekämpfung der PKK. Aus türkischer Sicht würde mit einem Zerfall des Irak der regionale Einfluß Irans, der auch die Position Ankaras beeinträchtigen würde, beträchtlich zunehmen. Das würde — was angesichts des Präzedenzfalls Kosovo als noch bedrohlicher erscheint — das Entstehen eines unabhängigen Kurdenstaats im Nordirak begünstigen, der dem Unabhängigkeitskampf der Kurden in der Türkei enormen Auftrieb gäbe. Die Diskussion um den richtigen Weg zur Erreichung dieser Ziele ist in Ankara — zumindest vorläufig — mit dem Kompromiß entschieden worden, den ohnehin bestehenden militärischen Druck mit politischen, diplomatischen und wirtschaftlichen Initiativen zu kombinieren. Grenzüberschreitende Militäraktionen gegen die PKK, regelmäßige Treffen und Konsultationen mit der politischen Führung der irakischen Kurdenregion und vertiefte wirtschaftliche Kontakte sind deswegen seit Monaten zwischen Ankara und Hewlêr Normalität. Das türkisch-kurdische Handelsvolumen hat inzwischen den regional hohen Wert von zehn Milliarden US-Dollar überschritten. Mehr als 300 türkische Unternehmen sind im kurdischen Nord-irak aktiv und machen dort gute Geschäfte. Stolz verkündet Falah Mustafa Bakır, Staatsminister der Kurdischen Regionalregierung für auswärtige Beziehungen: „Die größten Auftrage in der Region sind an türkische Firmen gegangen. Hotels und Bürokomplexe in Hewlêr und Silêmanî (Sulaimaniyya) und auch die dortige neue Kurdische Universität haben die Türken gebaut.“ Auch für die Kurdische Regionalregierung sind die Chancen und Vorteile des kurdisch-türkischen Tauwetters deutlich: Der Regierung unter Masud Barsani, bislang der treueste Bündnispartner der Amerikaner im Irak, ist inzwischen bewußt, daß die irakischen Kurden nach dem Abzug der US-Truppen allein auf sich gestellt mit der irakischen Zentralregierung in Bagdad und mit dem türkischen Nachbarn klarkommen müssen. „Die Türkei kann für uns ein wertvoller Partner sein — eine Brücke nach Europa, ein Transitland für die Öl- und Gasexporte Kurdistans, als Investor in unserem Land, in dem es noch soviel aufzubauen gibt“, so Falah Mustafa. Für beide Regierungen ist der neue Stil der Zusammenarbeit jedoch nicht ganz ungefährlich: Die Politiker der Kurdischen Regionalregierung müssen sich seit der Etablierung der parlamentarischen Demokratie im „neuen Irak“ den kurdischen Wählern stellen, und bei denen sind die Sympathien für die Kämpfer und Kader der im Nordirak befindlichen Einheiten der PKK stark ausgeprägt. Die meisten irakischen Kurden sehen in der PKK eine Gruppe, die genauso für die kurdischen Rechte in der Türkei kämpft, wie es die Peschmerga (Pêşmerge) der irakischen Kurden jahrzehntelang gegen Saddam Hussein und Bagdad getan hatten. Umgekehrt stellen sich die Kurden der Türkei die Frage, warum ihre Regierung mit den irakischen Kurden spricht und Verhandlungen führt, nicht aber mit den Kurden in Amed (Diyarbakır), in Wan (Van), Mêrdîn (Mardin) und im ganzen kurdischen Gebiet der Türkei. In einem in der Tat schwer verständlichen Kontrast zur Politik der Versöhnung und Kooperation mit den irakischen Kurden steht die Verschärfung der türkischen Kurdenpolitik in der Türkei selbst, die sich in den letzten Monaten vollzogen hat. Seit ihrer Gründung im Oktober 1923 kommt die aus der Erbmasse des Osmanischen Reiches entstandene Türkische Republik mit ihrer größten ethnischen Minderheit, den Kurden, nicht ins reine. 15 Millionen Menschen, rund ein Fünftel der Gesamtbevölkerung der Türkei, sind Kurden. Noch vor drei Jahren hatte der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan vielen Kurden in der Türkei als Hoffnungsträger gegolten, als mutiger Held, von dem sie eine Verbesserung ihrer Situation erwarteten. Auf dem Marktplatz von Amed (Diyarbakır), der größten kurdischen Stadt der Türkei, hatte er damals als erster türkischer Regierungschef öffentlich von einem „Kurdenproblem“ gesprochen und versprochen, „eine demokratische Lösung“ des Konflikts zu finden, der seit 1984 fast 40.000 Menschen das Leben gekostet hat. Er hatte ihnen öffentlich ein Recht auf ihre Sprache und ihre kulturelle Identität zugestanden. Sein Wahlversprechen fand Anklang bei den Menschen im Kurdengebiet. Bei den Wahlen im vergangenen Jahr räumte Erdoğans islamisch-konservative Partei AKP im Südosten ab und wurde stärkste Partei im Kurdengebiet — teilweise zu Lasten der bisherigen, meist linksnationalen Kurdenpolitiker. Doch jetzt ist alles anders: Keines von Erdoğans Versprechen wurde erfüllt, und im Wahlkampf für die im Frühjahr anstehenden Kommunalwahlen setzt der AKP-Chef wieder auf den üblichen kurdenfeindlichen Ultranationalismus, wie er im Westen der Türkei üblich ist. Schon seit Monaten brodelt es deswegen wieder im türkischen Kurdengebiet. Proteste sind an der Tagesordnung. In den kurdischen Städten, wo die Sicherheitskräfte mit willkürlichen Festnahmen ein Klima der Angst schaffen, herrscht der faktische Ausnahmezustand. In Colemêrg (Hakkari) nahe der Grenze zum Irak und in den Großstädten Wan und Amed gingen Ende Oktober Zehntausende Jugendliche auf die Straße. Der Unmut kocht über. „Erdoğan“, so heißt es, „hat die Kurdenfrage nicht gelöst, mit ihm ist alles noch schlimmer geworden. Er hat mehr Militäroperationen angeordnet, unter ihm hat es noch mehr Gemetzel und Blutbäder gegeben. Wir sind tief enttäuscht von Erdoğan.“ Aus dieser Enttäuschung heraus sind viele Kurden wieder empfänglicher geworden für die PKK und ihre Kampfparolen. Eine Serie von Angriffen auf türkische Grenzposten hat die Kurden davon überzeugt, daß die PKK nicht am Ende ist. Sie hat aber auch den konservativ-islamischen Premier an die Seite des laizistisch-nationalistischen Militärs der Türkei getrieben. Zudem hat Erdoğan sich entschieden, im Wahlkampf für die in vier Monaten anstehenden Kommunalwahlen auf die ultranationalistische türkische Klientel zu setzen, von der er sich derzeit mehr Stimmen verspricht als von den ohnehin enttäuschten Kurden. Bei seinem jüngsten Besuch im Kurdengebiet umriß der Ministerpräsident seine neue Kurdenpolitik deshalb so: „Ein Volk, eine Fahne, ein Vaterland, ein Staat — das ist es, wofür wir eintreten. Für solche, die das nicht wollen, ist in diesem Land kein Platz. Die sollen doch abhauen, wohin sie wollen“, meinte Erdoğan. Viele Kurden sind schockiert von ihrem einstigen Hoffnungsträger. Dieser Spruch vom Abhauen scheint unfaßbar: Wir sind Bürger dieser Region und Kinder dieses Landes, wir haben hier schon gelebt, als es hier noch gar keine Türken gab, sagen Kurdenvertreter. Die aus Zentralasien stammenden Seldschuken leiteten nämlich erst im Jahre 1071 mit der Schlacht von Manzikert (heute Kelê/Malazgirt) die türkische Landnahme Anatoliens ein. Da waren die zur iranischen Sprachfamilie gehörenden Kurden bereits seit Jahrhunderten ansässig. Foto: Türkisches Militär im Kurdengebiet des Nordirak: „Ein Volk, eine Fahne, ein Vaterland, ein Staat — das ist es, wofür wir eintreten“