Donald Tusk durfte ernten, wo er nicht gesät hatte. Die Unterzeichnung des Reformvertrages in Lissabon am 13. Dezember gab dem polnischen Premier erneut Gelegenheit, sich als fortschrittlichen Europäer ins liberal-milde Licht der ihm meist zugeneigten Medien zu setzen. Nach einigem Verwirrspiel um die Leitung der Warschauer Delegation gab Tusk nach und ließ dem Staatspräsidenten Lech Kaczyński den Vortritt.
Am Tag darauf auf dem EU-Gipfel in Brüssel vertrat er sein Land allein. Und dort, wo die Strategie festgelegt wird, nach der das Lissaboner Reformwerk ins realpolitische Leben gesetzt wird, hat sich der Regierungs- wieder einmal gegen den Staatschef durchgesetzt – und gewaltiges mediales Lob eingeheimst.
Allerdings fällt bei soviel Huldigung (bei der die linksliberale Gazeta Wyborcza die Spitze behauptet) glatt unter den Tisch, daß der Mustereuropäer Tusk den Vertrag keineswegs ganz angenommen hat. Sein nationalkonservativer Amtsvorgänger Jarosław Kaczyński setzte nämlich in zähen Verhandlungen mit der EU durch, daß Polen die Grundrechtecharta – einen Bestandteil des Reformvertrages – nur im Kleinstmaßstab anerkennt. Tusk hatte sich als Oppositionsführer für die Annahme der Charta stark gemacht, als Kabinettschef aber dann alte Weggenossen regelrecht vor den Kopf gestoßen, als er erklärte, daß seine Regierung Reformvertrag und Charta in genau derselben Fassung übernehmen wolle, wie sie vom Vorgänger ausgehandelt worden sei.
Und Kaczyński erreichte einen Beitritt zum "britischen Protokoll". Dieses besteht aus zwei Artikeln, von denen der erste besagt, daß die Charta in Polen und Großbritannien nur in dem Maße Anwendung findet, wie dies vom jeweiligen Landesrecht ermöglicht und praktiziert wird. Der zweite hingegen präzisiert, daß sie nur in den Bereichen Arbeit und Soziales verwirklicht wird. Mit seiner um national-christliche Werte zentrierten Regierung konnte Kaczyński auf Ausnahmen vom Vertrag pochen, wohlwissend, daß er eine erdrückende Mehrheit der Polen vor allem dort hinter sich hat, wo die EU-Charta eine Gleichstellung aller Art von Lebensgemeinschaften fordert und wo sie ein unerträgliches Mißverhältnis schafft zwischen aufgedunsenen Rechten der Persönlichkeit und den arg ausgedünnten der Gemeinschaft.
Gegenresolution für "Ein Europa der freien Völker"
Nicht unwesentlich für die Kaczyński-Regierung war auch, daß durch die geradezu inflationäre Häufung von Generalklauseln die Charta möglichen staatsrechtlichen Interpretationsfehden Tor und Tür öffnete. Schließlich spielte auch der dezidiert laizistische Charakter der Charta, ihre offensichtlich nicht-christliche Stoßrichtung eine Rolle für Kaczyńskis ablehnende Haltung gegenüber der EU-Präsidentschaft. Da der letzteren jedoch das französisch-niederländische Debakel mit der gescheiterten Abstimmung über EU-Verfassung noch frisch in den Knochen steckte, hatte Kaczyński seinerzeit keine Mühe, eine konziliante Haltung der Brüsseler Zentrale zu erreichen.
Nach dem Regierungswechsel im Okober von der sozialkonservativen PiS zur wirtschaftsliberalen PO mußten im christlich-nationalen Lager die Befürchtungen wachsen, Tusk würde die Charta vollständig ins nationale Recht übernehmen. Ausdruck dieser Sorgen ist nicht nur die am 7. Dezember in Warschau von rechten Intellektuellen und Politikern veröffentlichte Resolution "Ein Europa der freien Völker", die einen kurzlebigen Wirbel um den ehemaligen PiS-Sejm-Abgeordneten Artur Zawisza erzeugte. Wesentlich wichtiger war die unzweideutige Drohung des Europaabgeordneten Konrad Szymański (PiS), für den Fall, daß Tusk die Charta anerkenne, würde die PiS im Sejm gegen den Reformvertrag stimmen. Da aber für die Annahme des Vertrags eine Zwei-Drittel-Mehrheit notwendig ist, wäre diese bei einem Nein von PiS (32 Prozent) und einer Enthaltung der Postkommunisten (13 Prozent) ernsthaft in Gefahr.
Das Risiko des Scheiterns im (von der eigenen Partei dominierten) Sejm vor Augen, knickte Tusk erstmals ein – und handelte sich den Vorwurf von links ein, er sei ein Wahlbetrüger, dem die dezidierte Befürwortung der Charta von vor zwei Monaten nichts mehr bedeute. Ausgesprochen hatte den vielbeachteten Satz Wojciech Olejniczak, seines Zeichens Parteichef der postkommunistischen LiD und prononcierter Tusk-Gegner. Und er legte dem Zuhörer etwas nahe, was dieser womöglich schon dunkel geahnt haben wird: daß er nämlich Tusk wählte, um verwässerten Kaczyński zu bekommen.