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Bernd Zimniok, Demografie, Massenmigration

„Die Ukraine bricht nicht auseinander“

„Die Ukraine bricht nicht auseinander“

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„Die Ukraine bricht nicht auseinander“

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Bei der vorgezogenen Parlamentswahl vom 30. September erzielten die Parteien der "Orangenen Revolution" von 2004 – der Wahlblock von Julia Tymoschenko (BJuT) und das Wahlbündnis Unsere Ukraine/Selbstverteidigung des Volkes (NU-NS) von Präsident Wiktor Juschtschenko – mit 227 von 450 Sitzen in der Obersten Rada, dem Parlament in Kiew, eine äußerst knappe Mehrheit. Doch bei den beiden Wahlgängen am Dienstag voriger Woche fehlte der designierten Regierungschefin Tymoschenko jeweils eine Stimme, um im Amt bestätigt zu werden. Die Rada-Abgeordneten der verfeindeten Fraktionen lieferten sich heftige Wortgefechte, die zuweilen sogar in Handgreiflichkeiten mündeten. Man warf sich gegenseitig Manipulation und Wahlfälschung vor. Die fehlenden Stimmen sollen auf das Konto von Juschtschenkos NU-NS gehen – was nicht verwundert. Schon in der kurzen Legislaturperiode 2006/2007 liefen nicht nur die einst "orangenen" Sozialisten (SPS) von Alexander Moros, sondern auch zahlreiche Juschtschenko-Leute ins "blaue" Lager des damaligen Premiers Wiktor Janukowytsch über. Dabei sollen auch Dollar-Zahlungen von Oligarchen aus der Ostukraine eine Rolle gespielt haben. Im aktuellen Korruptionsindex von Transparency International liegt die Ukraine auf Rang 99 hinter Mosambik und vor Bolivien. Auch wenn Tymoschenko nun am Dienstag gewählt wurde – das Regieren dürfte angesichts der knappen Mehrheiten äußerst schwierig werden.

Positive Veränderungen seit der Orangen Revolution 2004

Herr Andruchowytsch, die makroökonomischen Daten der Ukraine sind trotz des eingangs beschriebenen politischen Chaos vergleichsweise gut. Die Inflation liegt offiziell bei unter sieben Prozent, die Industrieproduktion hat um fast elf Prozent zugelegt. Die ausländischen Direktinvestitionen betrugen im ersten Halbjahr 2007 umgerechnet etwa 360 Millionen Euro, das sind um die Hälfte mehr als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Die Wirtschaft ist – trotz der Ausfälle im Agrarbereich – um insgesamt 7,5 Prozent gewachsen. Hat die abgewählte Regierung des "Anti-Orangenen" Wiktor Janukowytsch nicht doch ganz ordentliche Arbeit geleistet?

Andruchowytsch: Ich glaube nicht, daß dies objektive Daten sind, die Sie da nennen. Ich sehe die konkreten Dinge des Alltages um mich herum. Steigende Preise, vor allem bei Energieträgern – das geschah alles unter Janukowytsch. Im kommunalem Bereich haben sich die Preise vervierfacht, so daß etwaige Lohnerhöhungen von diesem Preiswachstum faktisch aufgefressen worden sind. Es gehörte zur Lieblingsbeschäftigung der Janukowytsch-Regierung, sich mit dem Wachstum des Bruttosozialprodukts zu brüsten. Dies entsteht ausschließlich durch eine günstige Konjunktur für die Stahlproduktion, welche 90 Prozent des vermeintlichen Wachstums ausmacht. Keinem durchschnittlichen Ukrainer kommt sie in irgendeiner Weise zugute.

Sie wurden in Stanislau (heute Iwano-Frankiwsk) geboren, das bis 1918 Teil der Habsburger Monarchie und dann bis 1939 ein Teil Polens war. Eine Stelle nahe Rachiw (Rahó/Rauhau) im einst ungarischen und nun ukrainischen Transkarpatien wurde 1887 von k.u.k.-Kartographen als geographisches Zentrum Europas berechnet. Polen und fast alle Nachfolgestaaten der Habsburger Monarchie sind inzwischen EU-Mitglieder. Brüssel hat hingegen der Ukraine – im Gegensatz zur islamischen Türkei – bislang eine klare Absage erteilt. Sind Sie enttäuscht?

Andruchowytsch: Nein, ich glaube nicht, daß Brüssel uns eine solche Absage erteilt haben soll. Seit der Zeit der Orangenen Revolution 2004 gab es prinzipiell wichtige, positive Veränderungen bei uns. Ich bin tief davon überzeugt, daß die EU bezüglich der Ukraine in Wirklichkeit einen positiven Entscheid bereits getroffen hatte. Wir werden in die EU eingeladen werden. Das heißt aber, wenn ich mal laut denke, daß die Ukraine noch sehr viel zu arbeiten hat. Aus dem Blickwinkel der EU-Strategen darf man uns im Moment nur noch nichts Direktes versprechen. Ich bin sicher, daß unser Land eines Tages zum nächsten und wichtigsten Partner der EU wird.

Die abgewählte polnische Regierung unter Jarosław Kaczyński hat sich in Brüssel für den EU-Beitritt der Ukraine engagiert. Die neue Regierung unter Donald Tusk will diesen Weg fortsetzen. Aber am 21. Dezember treten Ihre westlichen Nachbarländer Polen, die Slowakei und Ungarn dem EU-Schengen-Raum bei. Entsteht angesichts dessen nicht ein neuer "Eiserner Vorhang" an der ukrainischen Westgrenze? Erschwert das nicht auch die geplante Fußball-EM 2012, die zusammen mit Polen ausgerichtet wird?

Andruchowytsch: Ich denke, es ist eher umgekehrt. Die gemeinsame Fußball-EM bedeutet nichts anderes als einen mächtigen Schlag in einen derartigen "Eisernen Vorhang". Und durch den Schengen-Beitritt unserer Nachbarländer verbessert sich die Lage an unserer Westgrenze – sie wird komfortabler und zivilisierter.

Im Osten und im Süden der Ukraine wird vorwiegend Russisch gesprochen, viele blicken dort immer noch wehmütig nach "Mütterchen Rußland". Der Westen drängt in die EU. Auch die orthodoxe Kirche ist weiter gespalten. Die Wahlergebnisse bestätigten erneut die innerukrainische Kluft. Könnte daran die Ukraine zerbrechen?

Andruchowytsch: Nein, sie bricht nicht auseinander. Mag sein, daß die Ukrainer im Osten und Westen womöglich aus ziemlich verschiedenen Orientierungspositionen heraus handeln, wohl aber verbindet sie die Tatsache, daß sie sich vor radikalen Schritten gemeinsam hüten – nach dem Motto: "Eine miserable Ehe ist immer noch besser als eine gute Scheidung". Dieser Faktor rettet die Ukraine seit 1991. Allenfalls die Halbinsel Krim (sie gehörte bis 1954 zur Russischen Föderation) stellt für uns ein größeres Problem dar.

Die Nomenklatura hat die Gunst der Stunde genutzt

Wie kann man einem "Westler" erklären, daß einige oft "system-nahe" Ex-Sowjetbürger plötzlich als "Oligarchen" über Milliarden-Vermögen und politischen Einfluß verfügen und andererseits die Widersacher der Sowjetdiktatur an den Rand gedrängt sind? Warum gibt es keinen ukrainischen Lech Wałęsa oder Václav Havel?

Andruchowytsch: 1991 fand in der Ukraine in bezug auf die Änderung unseres sozialökonomischen Systems lediglich das erste Stadium der Revolution statt. Es ist nicht erstaunlich, daß die Nomenklatur, welche schon vorher alle Fäden in ihren Händen hatte, die Gunst der Stunde nutzte und es schaffte, das nationale Eigentum an sich zu reißen. Anders würde unsere Ausgangslage aussehen, wenn dies eine vollendete Revolution gewesen wäre. Eine "vollendete Revolution" würde aber kraftvolle Zusammenstöße bedeuten: Massenaufruhr, Gewalt, Blutvergießen. Nun, aus dem Blickwinkel der Geschichte, wenn auch noch nicht der großen Geschichte, bleibt uns jetzt frei, Schlüsse zu ziehen und zu raten, welche der zwei Varianten besser gewesen wäre. Etwa jene, die wir mit dem gegenwärtigen oligarchischen System im Lande erhalten haben, oder doch vielleicht ein anderes System? Errichtet zwar unter Einsatz von Gewalt und blutigen Auseinandersetzungen, dafür aber mit endgültiger Niederwerfung der kommunistischen Nomenklatura als herrschende Klasse?

Die in Moskau akkreditierten westlichen Journalisten (in Kiew, der Hauptstadt der Ukraine, dem zweitgrößten Land Europas, fehlen sie immer noch) behaupten mehrheitlich in ihren Berichten, Janukowytsch (dem 2004 Wahlfälschung vorgeworfen wurde) sei inzwischen ein Demokrat, welcher für die Einheit der Ukraine kämpfe und sogar pro-europäisch sei. Im gleichen Atemzug bezeichnen sie ihn weiterhin als "pro-russisch". Wie erklären Sie diesen Denkwiderspruch?

Andruchowytsch: Janukowytschs "Partei der Regionen" deklariert in der Tat das gleiche Programmziel wie Tymoschenko und Juschtschenko – europäische Integration samt der EU-Mitgliedschaft unseres Landes. Es fängt aber dann an zu hapern, wenn er immerzu neue Ehrerbietungen vor Rußland macht und sagt, wir wollen mit diesem doch eine Art der unzertrennlichen Union beibehalten. Die Rolle der Ukraine darin wäre, eine kleine Brücke zu spielen, quasi ein Durchgangshof zu sein, eine Art Konstruktion zu bilden, auf der alle ungestört herumtrampeln können. Und das ist eine der gefährlichsten seiner außenpolitischen Ansichten. Darum habe ich für ihn nie votiert und würde ihn auch in Zukunft nie unterstützen. Jemand, der einerseits demokratische und pro-europäische Rhetorik betreibt und anderseits in seiner Wirkung, seiner Denkart sowie dem gesamten Wertesystem pro-russische, ja postsowjetische Züge verrät, ist unglaubwürdig. Er ist deswegen ein Politiker von gestern.

Der russische Präsident Wladimir Putin strebt eine dritte Amtszeit an – diesmal als Ministerpräsident. Wie beurteilen Sie das aus ukrainischer Sicht? Bedeutet es stärkeren russischen "Imperialismus" oder Berechenbarkeit und Stabilität?

Andruchowytsch: Ich meine, weder das erste noch das zweite trifft zu. Warum? Weil die ukrainische Obrigkeit im Umgang mit Putin, der seit 2000 an der Macht ist, einen Modus Vivendi gelernt hat. Allerdings schließe ich ein pessimistisches Szenario ebenfalls ganz nicht aus. Erneut an der Macht in Rußland, könnte Putin wiederholt einen aggressiveren Kurs einschlagen, wieder Härte zeigen. In Rußland gestaltet sich die jetzige politische und gesellschaftliche Lage aber so, daß derzeit eine andere Staatsführung dort schlichtweg unmöglich ist. Wir sollten also Realisten bleiben und davon ausgehen, daß man weiter mit einem solchen Rußland zu tun haben wird. Die Lösung Putin erscheint für uns etwas optimistischer – denn an ihn haben wir uns schon gewöhnt.

Juri Ihorewytsch Andruchowytsch, Jahrgang 1960, ist ein ukrainischer Schriftsteller, Dichter, Essayist und Übersetzer. Er ist Vizepräsident des Ukrainischen Schriftstellerverbandes (AUP). In seinen Texten greift er auf satirische Weise Themen der post-sowjetischen Realität auf. Zuletzt erschienen sein Roman "Zwölf Ringe" (2005) und seine Essaysammlung "Engel und Dämonen der Peripherie" auf deutsch (Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 2007).

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