Eine Wissenschaft, die lyrisch wird, taugt nichts. Heidegger ist eine geniale Ausnahme, doch nicht um ihn, sondern um Heitmeyer, Wilhelm, Soziologieprofessor aus Bielefeld, geht es. Aufgrund von Telefonumfragen hat er eine "gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit" konstatiert, die mittlerweile die Hälfte der Deutschen erfaßt habe. Bei näherem Hinsehen ergibt sich, daß es sich primär um eine neue Wortschöpfung für "Ausländerfeindlichkeit" handelt, die inzwischen niemand mehr ernst nimmt.
Der Begriff "Menschenfeindlichkeit" hat zwar keine wissenschaftliche, aber eine politische Bedeutung. Wer sich als "menschenfeindlich" entlarvt, ist damit ein Feind der Menschlichkeit und der Menschheit und potentiell ein Fall für den Kadi oder die anderen "zuständigen Organe", wie es in der DDR einst hieß. Es handelt sich um einen politischen Kampfbegriff, Heitmeyer benutzt ihn zur Herrschaftssicherung durch Einschüchterung. Der deutsche Michel, der gerade aus seiner falschen Saturiertheit aufwacht und entsetzt realisiert, was die politische und intellektuelle Elite der guten Menschen unterdessen angerichtet hat, soll nicht bei ihr, sondern bei sich selbst die Schuld dafür suchen, daß er sich im Chaos wiederfindet.
Erst vor Wochen war eine von der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in Auftrag gegebene Studie zweier Leipziger Wissenschaftler zum Thema "Rechtsextremismus" vorgestellt worden, die die These vom "Extremismus der Mitte" wiederbelebt hat (JF 47/06). Die Studie ist für Auftraggeber wie -nehmer gleichermaßen nützlich: Die SPD hat vermeintlich wissenschaftliche Argumente für ihren "Kampf gegen Rechts" in die Hand bekommen, und die Forscher können für den akademischen Konkurrenzkampf ihre Publikationsliste auffüllen und auf eingeworbene Drittmittel verweisen. Unter solchen Umständen eine ergebnisoffene Forschung zu unterstellen, wäre naiv.
Nur zwei Beispiele für den Mangel an Seriosität: Die Zustimmung zu der Aussage, wünschenswert sei "eine einzige Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert", wird als Ausdruck einer "rechtsextremen" Einstellung eingeschätzt. Warum nicht einer "linksextremen"? Wegen der Verbalfalle "Volksgemeinschaft"? Es ist doch noch gar nicht lange her, daß in der DDR eine "Sozialistische Einheitspartei" das "ganze Volk" vertrat und regierte. Und wäre die Bejahung der Aussage, daß "Ausländer" vor allem wegen des Sozialsystems nach Deutschland kommen, statt rechtsextremistisch nicht vielmehr realistisch zu nennen? Leistungsträger, das zeigt die gescheiterte Greencard-Regelung, sehen in Deutschland kein Betätigungsfeld. Bleiben die Leistungsempfänger. Im übrigen arbeitet die Leipziger Expertise mit Termini wie "Chauvinismus", "Ausländerfeindlichkeit" und "Verharmlosung des Nationalsozialismus", allesamt politisch konnotierte Begriffe.
Die CDU hat sich in Geiselhaft begeben
Beide Studien nehmen gar nicht Neonazis oder "Extremisten", sondern die "Mitte" ins Visier, selbst bei SPD-Wählern wird "Extremismus" gewittert. Als beinahe revolutionär wurde die Erkenntnis der Leipziger Studie hervorgehoben, daß neben den neuen Ländern insbesondere in Bayern "extremistische" Einstellungen grassierten. Bayern ist schließlich dasjenige Bundesland mit den besten ökonomischen, sozialen, gesellschaftlichen und Bildungsparametern – was damit zu tun hat, daß man aus einem politisch-regionalen Selbstbewußtsein heraus zeitgeistigen Entwicklungen effektiven Widerstand entgegensetzt hat. Der soll diffamiert und abgeräumt werden.
In der Welt fragte vor einigen Wochen der Jurist und Autor Horst Meyer angesichts der in immer kürzeren Abständen losgetretenen Kampagnen: "Warum ergeht sich das bessere Deutschland in solchen Ausgrenzungsritualen?" Seine "Arbeitshypothese" lautete: "Die Reeducation ist abgeschlossen, nicht aber die Selbstaufklärung der Demokraten", die ein "belastbares demokratisches Bewußtsein" noch immer vermissen ließen. Meyer ist ein kluger Kopf. Seine "Arbeitshypothese" aber ist naiv, denn sie versucht, politische Probleme und Interessen in psychologischen und moralisierenden Kategorien zu erfassen.
Zunächst einmal: Wenigstens gegen den "Extremismus" und seine "Menschenfeindlichkeit" kann eine ratlose Politik anwettern, Gesetze beschließen, politisches Handeln vortäuschen. Das gilt selbst für die CDU. Die einstmals bürgerliche Partei hat sich damit in die Geiselhaft eines linken "Antifaschismus" begeben, denn das gemeinsame Interesse der politischen Klasse ist stärker als das Bedürfnis der Union, auf der politischen Differenz und Inhalten zu bestehen und für sie einzutreten. Das übergeordnete Ziel ist die Verteidigung der Pfründe des Parteienstaates, in dem alle gemeinsam versagt haben, an dem aber auch alle gemeinsam partizipieren. Man schlägt den Sack "Extremismus", aber meint den Esel "Demos", damit dieser nicht aufmuckt. Doch sind das noch überschaubare, altmodische und recht harmlose Gründe.
Es gibt einen neuen, viel brisanteren. Die politische Klasse ist völlig ratlos, wie bei sinkendem Beschäftigungsgrad der soziale Friede, ja der Staat überhaupt gesichert werden kann. Die Globalisierung und neue Produktionsverfahren setzen immer mehr Arbeitnehmer frei, die Sozialsysteme kollabieren. Dramatisch wird die Lage durch die ethnischen Verschiebungen, die in den deutschen Großstädten in wenigen Jahren dazu führen werden, daß die Deutschen in den unteren Altersgruppen zur Minderheit werden. Die Angehörigen der dominierenden Ausländergruppen aber sind zum große Teil Minder- oder Unqualifizierte ohne Berufs- oder Schulabschluß. Von ihnen die Einhaltung eines rechtsstaatlichen und zivilisatorischen Mindeststandards zu erwarten, ist illusorisch. Die Randale in den Berliner Problemkiezen sind keine Vorboten der Zukunft mehr, sondern Gegenwart. Die einzige Möglichkeit dieser Leute, den Lebensunterhalt zu bestreiten, sind Sozialtransfers (oder Kriminalität). Wie soll der steigende Bedarf finanziert und der Staat stabil gehalten werden?
Den Ausweg bietet die Ausplünderung der deutschen Mittelschichten und die Verteilung ihrer privaten Reserven an jene, die andernfalls die Straßen zum Brennen bringen. Diese Entwicklung hat längst begonnen, sie wird an Umfang und Tempo zunehmen, immer unter Schlagworten wie "soziale Gerechtigkeit" und "Integration". Das über die Bevölkerung geworfene Netz wird von Tag zu Tag engmaschiger. Die immer neuen Gesetze und Vorschriften zur Kontrolle von Privatkonten, Geldüberweisungen, Fluggepäck und der Telefon- und Internetverbindungen, die mit der Terrorgefahr begründet werden, können genausogut zur Überwachung, Ausplünderung und Einschüchterung des Durchschnittsbürgers herangezogen werden, ihn zum willfährigen Objekt der Staatsgewalt machen.
Um eine Diskussion über die verantwortungslose Zuwanderungspolitik als eine Hauptursache der gesellschaftlichen Verwerfungen abzublocken, die schnell zur Delegitimierung der politischen Klasse führen könnte, werden die Fragestellungen präventiv als "extremistisch" oder "menschenfeindlich" geächtet. In der Entschlossenheit etwa fast aller Parteien, in Berlin-Pankow, einer Gegend ohne Muslime, gegen den Willen der Anwohner eine Moschee errichten zu lassen, wird der Wille der Politik anschaulich, den Bürger moralisch und politisch zu knebeln. Diese sozial-egalitäre Stoßrichtung führt sogar die lumpenproletarische Antifa-Bewegung an die Seite islamischer Missionierungsbestrebungen.
Es ist deshalb unergiebig, den Zustand von Politik und Gesellschaft in Deutschland an den Maßstäben einer idealen Demokratie zu messen. Im Dreieck aus politischen Ablenkungs- und Einschüchterungskampagnen, immer neuen Kontrollgesetzen und finanziellen Begehrlichkeiten des Staates findet eine Systemtransformation statt, für die wir noch keine Begriffe haben. Noch ist sie nicht totalitär, als Arbeitsbegriff böte sich "gelenkte Demokratie" an.
Erst in diesem Zusammenhang ist eine Betrachtung der psychologischen Mechanismen aufschlußreich. Gehalt und Kausalitäten der "Reeducation" (Umerziehung), der mangelnden "Selbstaufklärung der Demokraten" usw. müssen dabei anders bestimmt werden, als Meyer das tut. Die politischen, pseudowissenschaftlichen und medialen "Ausgrenzungsrituale" spiegeln in verzerrter Form eine allgemeine Voraussicht des sozialen Abstiegs wider, die von der Furcht vor der "Islamisierung" der eigenen Lebenswelt überlagert und bis zum Gefühl der Vergeblichkeit gesteigert wird.
Das Begehren nach Schonung stand am Anfang
Henryk M. Broder sieht in Deutschland zu Recht "Appeasement"-Reflexe wirken, allerdings sitzt er falschen Vorstellungen vom historischen Appeasement auf. Um den Zusammenhang von Furcht und Ausgrenzungsritualen zu verstehen, halte man sich an Arnold Gehlen, der über die Deutschen nach 1945 schrieb: "Widerlegte Völker, die sich einer übermächtig-fremdbestimmten Zukunft gegenübersehen, versuchen doch in weiten Verkehrs- und Mitteilungsräumen zu missionieren, um eine Atmosphäre der Schonung zu verbreiten. Wir Deutschen sind in der besonderen Lage, nach zwei verlorenen Kriegen (…) von der großen Politik für immer ausgeschlossen zu sein, unsere Sicherheit erhoffen wir von außen."
Das Begehren nach Schonung stand schon am Anfang der Vergangenheitsbewältigung. Auch die fatale Asyl- und Ausländerpolitik fügte sich in dieses Muster ein. Indem die Bundesrepublik Menschen aus "weiten Verkehrs- und Mitteilungsräumen" die Möglichkeit der Teilhabe am Sozialstaat einräumte, sollte die Welt von der Güte des Landes überzeugt und gütig gestimmt werden. Heute ist klar, daß die Ignoranz gegenüber den Regeln des politischen Selbsterhalts nicht die Politik aus der Welt geschafft, sondern die Bundesrepublik innenpolitisch schachmatt gesetzt hat. Die Politik hat das Land wieder eingeholt und gewährt ihm keine Schonung mehr. Was soll in dieser Situation ein Politiker, Journalist oder Wissenschaftler tun, der mit der Schonungsillusion aufgewachsen ist, der sie verinnerlicht und vertreten hat, dem nun aber selber die Furcht mit kalter Hand ans Herz greift? Er tut das Nächstliegende, zeigt auf andere und ruft: Die sind schuld, daß wir nicht geschont werden. Jagt sie, die Menschenfeinde und Extremisten!
Foto: Menschenauflauf: Die "Mitte" der Gesellschaft gerät ins Visier