Mit jedem Tag, der seit dem 22. Mai vergangen ist, wird die Fragwürdigkeit einer vorgezogenen Bundestagswahl deutlicher. Zunächst hatten Bundeskanzler Gerhard Schröder und SPD-Chef Franz Müntefering mit ihrem Coup alle nur überrascht. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel hatte ihre praktische Bankrotterklärung, denn etwas anderes war das nach der verlorenen Wahl in Nordrhein-Westfalen nicht gewesen, eingeschlagen. Doch bald waren sie nicht nur wieder obenauf, auch die anderen Erschrockenen hatten sich schnell vom Donnerknall erholt. Schnelle Wahlen, wie simpel, und schon sind wir alle Sorgen los. Keine der sich vorbereitenden Parteien hat sich in den acht Wochen auch nur die Spur von wirklich ernsthaften und deshalb ernstzunehmenden Gedanken über politische Konzepte gemacht, die aus der deutschen Krise führen könnten. Im Vordergrund standen schnelle, billige und dem Wähler gut verkäufliche Werbesprüche. Auch die Verkaufsmethode ist bei allen fast deckungsgleich. An den Anfang werden einige Sorgenfalten projiziert, damit der ohnehin unzufriedene Wähler auch wirklich gesagt bekommt, daß die Lage ernst ist. Es soll ja schließlich nicht zu dummdreist geschwindelt werden. Dann werden ihm die Floskeln von notwendigen Reformen um die Ohren gehauen. Ein bißchen Angst machen ist immer gut. Und schließlich kommen die paar Verheißungen, daß alle Martern am Ende gar nicht so schlimm werden, wie die jeweils anderen sie denn vorhätten. Nichts ist daran gegenüber dem Wahlkampf von 2002 neu – außer der noch plumperen Verteufelung des jeweils anderen Bewerbers. Und letztendlich wurde vor allem deutlich, daß es gar nicht um Reformen, eigentlich nicht einmal richtig um Politik geht, sondern vor allem um Posten und Listenplätze. Das Personengerangel, das Wegmobben aus oder Reinboxen in Kandidatenlisten, beschäftigte die vorbereitenden Parteitage in Städten, Kreisen und Bundesländern viel mehr als Debatten um die Programme. Gerade die Parteioberen ließen sich auf den Veranstaltungen nur als Winke-Winke-Kasperles sehen, schrieen ein paar Siegesparolen heraus, vergatterten vor allem den gemeinen Parteiplebs zum wackeren Kämpfen und brachen auf zum nächsten Rummelplatz. An vorderster Stelle die äußerste Linke. Alte, neue, gebliebene und gewandelte Kommunisten wetteifern mit der Marx-Lenin-Kopie Oskar Lafontaine und den nun endlich wieder voll anerkannten SED-Erneuerern um die zündendsten Ladenhüter aus den Hoch-Zeiten des stalinistischen Klassenkampfes. Wenn es nicht schon zu ernste verfassungsrechtliche Bedenken gegen diesen billigen und verlogenen Trick mit dem vorgetäuscht verlorengegangenen Kanzlervertrauen gäbe, wäre das Polittheater im Vorfeld dieser schnellen (und leider von zu vielen politisch Naiven gewünschten) Neuwahl der triftigste politische Grund für Bundespräsident Horst Köhler und das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, diesen Schwindel nicht durchgehen zu lassen. Denn es ist unschwer vorauszusagen, daß ein unter diesen Umständen neu gewählter Bundestag viel weniger handlungsfähig würde als der jetzige. Ob aber in der derzeitigen Situation und angesichts der aufgeheizten Emotionen im Lande noch an kühle Köpfe zu appellieren ist, darf wohl bezweifelt werden.