Der Mord an dem holländischen Regisseur Theo van Gogh am 2. November hat offenkundig einen unerwarteten Stimmungswandel in Deutschland hinsichtlich der bisherigen Ausländerpolitik und den verheißenen Segnungen einer multikulturellen Gesellschaft eingeleitet. In der veröffentlichten Meinung können seit diesem Tage Ansichten vertreten werden, die bislang als rassistisch, faschistisch und fremdenfeindlich diffamiert wurden. Sie gipfeln in der um sich greifenden Feststellung namhafter Hüter der Moral und Verfassung, daß die Illusionen von der Verwandlung Deutschlands in eine multikulturelle Gesellschaft geplatzt seien. Die Tatsache, daß die politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen sich spürbar von den jahrelangen ideologischen Fixierungen zu lösen beginnen und zumindest partiell die "Anerkennung der Realitäten" gefordert wird, ist verständlicher Anlaß zu Hoffnungen.
Der Erwartungshorizont sollte allerdings nicht zu weit gezogen werden, um nicht in neue Illusionen zu verfallen – in diesem Falle die Illusion, daß die maßgebenden Ideologen eine Kehrtwende auf ihrem Irrweg einschlagen könnten. Die emotionale Bereitschaft dazu sollte nicht bestritten werden, und viele haben diese Entscheidung vollzogen. Doch wie ist es diesen sogenannten Renegaten im Urteil der veröffentlichten Meinungen ergangen? Die disziplinierenden Wirkungen des Vorgehens gegen sie sind bekannt, so daß eine wesentliche Voraussetzung aufgeklärten, verantwortlichen Denkens systematisch verkümmert ist: "Der Mut, sich des eigenen Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen".
Wer diesen Mut noch hat, wird sich und den Verantwortlichen die Frage stellen, welche Konsequenzen es für die Glaubwürdigkeit hat, wenn nach dem 2. November unisono das Gegenteil von dem vertreten wird, was man zuvor verurteilt hat – von wenigen Ausnahmen abgesehen. Welche wirklich zwingenden Gründe für diese zackige Kehrtwendung können genannt werden, um sich der Erinnerungen an den bekannten Pawlowreflex und sonstiger Vernunfttrübungen des kollektiven Bewußtseins zu erwehren? Solange überzeugende Antworten auf diese Fragen nicht gegeben werden, sollte man den gegenwärtigen "Neuen Kurs" auch unter den rein taktischen Gesichtspunkten einer "Atempause auf dem Langen Marsch" und der Suche nach neuen Wegen zum alten Ziel der nach wie vor ersehnten multikulturellen Gesellschaft sehr aufmerksam beobachten. Gelegentlich muß man einen Schritt zurückgehen, um einen neuen Anlauf zu nehmen.
Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaften an der Hochschule der Künste in Berlin.