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Härte bei Kriminellen, Milde bei Rauschgift

Härte bei Kriminellen, Milde bei Rauschgift

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Härte bei Kriminellen, Milde bei Rauschgift

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Kurz nachdem John Kerry seine Niederlage eingestanden hatte, versuchte der leidenschaftliche Bush-Kritiker und erfolgreiche Dokumentarfilmer Michael Moore gleichgesinnten Landsleuten Trost zu spenden. „Geben wir’s doch zu“, heißt es in diesem Sinn auf der Internetseite von Deutschlands Lieblingsami: „Wir mögen die Bush-Zwillinge und wollen nicht, daß sie in der Versenkung verschwinden.“ Tatsächlich haben die 120 Millionen US-Bürger, die bei der Präsidentschaftswahl ihre Stimme abgaben, am 2. November nicht nur den fundamentalistisch-christlichen Vater der 22jährigen sündhaft blonden Jenna und ihrer brünetten Zwillingsschwester Barbara für vier weitere Jahre ins Weiße Haus geholt: In 34 der 52 US-Bundesstaaten wurden gleichzeitig Plebiszite über insgesamt 163 Gesetzesvorlagen durchgeführt. Die Volksabstimmungen deckten ein weites Spektrum ökologischer und gesellschaftspolitischer Anliegen ab, von der Bärenjagd (Alaska und Maine lehnten ein Köderverbot ab) über das Glücksspiel bis zur embryonalen Stammzellenforschung. Für letztere sollen in Kalifornien – trotz immenser Staatsverschuldung – drei Milliarden Dollar zur Verfügung gestellt werden, nachdem die Washingtoner Regierung 2001 die Mittel aus religiös-ethischen Gründen (wie in einigen EU-Staaten) drastisch gekürzt hatte. Der republikanische Gouverneur Arnold Schwarzenegger unterstützte die Initiative gegen den Willen seiner Parteispitze. Die kalifornischen Staatsgelder sollen wissenschaftlichen Instituten zehn Jahre lang zugute kommen. Auch viele Nobelpreisträger sowie der Microsoft-Gründer Bill Gates hatten sich für das zukunftsträchtige Projekt engagiert – das bei Erfolg den USA im Medizinbereich einen kaum einzuholenden Wettbewerbsvorteil speziell gegenüber Deutschland sichern könnte. Kalifornien werde nun zum „Mekka aller Stammzellenforscher“, jubelte der Chemie-Nobelpreisträger Paul Berg von der Universität Stanford bei Bekanntwerden der 59prozentigen Zustimmung. Während dieses Projekt so gar nicht in das europäische Zerrbild vom puritanischen Amerika paßt, dürfte die von den kalifornischen Wählern abgelehnte Aufhebung des Three Strikes And You’re Out-Gesetzes (Wiederholungstäter werden beim dritten – auch geringfügigen – Vergehen automatisch zu Freiheitsstrafen von 25 Jahren oder mehr verurteilt) hiesige Klischees über die USA bestätigen. Tatsächlich sind viele dieser urdemokratischen Entscheide nicht angetan, das Herz eines bekennenden Liberalen wie Moore höher schlagen zu lassen. Unter seinen „17 Gründen, Euch nicht die Pulsadern aufzuschlitzen“, listet dieser zwar auf, daß die Menschen in elf Staaten – Arkansas, Georgia, Kentucky, Moores Heimat Michigan, Mississippi, Montana, North Dakota, Oklahoma, Ohio, Utah und wider Erwarten auch im als Hippy-Enklave geltenden Westküstenstaat Oregon – für einen Verfassungszusatz gegen Eheschließungen zwischen Gleichgeschlechtlichen votierten, ergänzt jedoch ironisch: „Gott sei Dank. Denkt bloß an die ganzen Hochzeitgeschenke, die wir uns jetzt sparen können.“ Weniger Spaß verstand der Interessenverband National Gay and Lesbian Task Force: Das Volk lasse sich viel zu leicht aufhetzen, als daß man es über menschenrechtliche Belange abstimmen lassen dürfe, verlautete aus dessen Reihen. Nun müssen Gerichte prüfen, ob ein solches Gesetz in den Einzelstaaten gegen das Antidiskriminierungsverbot in der nationalen Verfassung verstößt. Einen um so handfesteren Grund, nicht zu verzweifeln, haben die 7,5 Millionen Erwerbstätigen im Rentner- und Urlauberparadies Florida: Dort stimmten 71 Prozent der Wähler einer Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns von 5,15 auf 6,15 Dollar (4,75 Euro) pro Stunde zu. Dasselbe soll in Nevada für Betriebe gelten, die Arbeitnehmern keine Krankenversicherung anbieten. Mindestlohn, Marihuana und erneuerbare Energien In Colorado scheiterte der Vorschlag, die neun Wahlmännerstimmen des Staates ab sofort proportional zu verteilen, statt sie dem siegreichen Präsidenten zuzuschlagen – was am diesjährigen Ergebnis nichts geändert, aber einen historischen Eingriff in das Wahlverfahren bedeutet hätte. Durchsetzen konnte sich dafür eine Initiative für umweltfreundliche Energie: Ab 2015 sollen mindestens zehn Prozent des Stroms in Colorado aus erneuerbaren Quellen (Wasser-, Wind- und Solarkraft) stammen – der Beliebtheit benzinfressender Kleinlaster (pick-ups) und Kleinbusse (vans) tut dies keinen Abbruch. Ausgerechnet im als hinterwäldlerisch und stockkonservativ verschrienen Montana sprachen sich 62 Prozent der Bürger dafür aus, Marihuana für den medizinischen Gebrauch freizugeben. In neun US-Bundesstaaten war das bereits möglich, in Oregon stimmten 57 Prozent gegen einen entsprechenden Antrag. Die Legalisierung des Rauschgifts als Genußmittel wie Tabak und Alkohol für Personen über 21 fand wiederum in Alaska nur 43 Prozent Unterstützung. In South Carolina wurde die Aufhebung eines Gesetzes gutgeheißen, nach dem Bars und Restaurants alkoholische Getränke nur in 60-ml-Flaschen verkaufen durften, und Oklahomas Wähler gaben einer staatlichen Lotterie ihren Segen, deren Erträge in die Bildung fließen sollen. Wenig überraschend befürworteten die Bürger von Arizona – das eine lange Grenze zu Mexiko hat – schärfere Identitätskontrollen, um illegal Eingewanderten den Zugang zu ihnen nicht zustehenden Sozialleistungen zu erschweren. Auch wer sich als Wähler registrieren lassen will, muß in Arizona zukünftig Papiere vorlegen, um sich als US-amerikanischer Staatsbürger auszuweisen. 101 der sogenannten ballot measures (Abstimmungspunkte) wurden von der jeweiligen Staatslegislative auf den Wahlzettel gesetzt (legislative referendum). Darüber hinaus lassen 24 US-Bundesstaaten von Bürgern eingebrachte Gesetzesvorlagen oder Verfassungsänderungen (citizen initiative)zum Volksentscheid zu, sofern diese die jeweils notwendige Zahl von Unterstützerunterschriften vorlegen können. Auch bereits verabschiedete Gesetze können auf diesem Weg abgelehnt werden (popular referendum), wie es aktuell in Kalifornien und Washington versucht wurde – beide Volksbegehren, das erste zur Gesundheits-, das zweite zur Bildungspolitik, scheiterten. Für Nicht-Amerikaner hat Michael Moore übrigens auch einen guten Rat: Sie sollten gar nicht erst versuchen zu verstehen, wie es zur Wiederwahl eines Präsidenten kommen konnte, dessen Politik laut Umfrageergebnissen über 50 Prozent der Bevölkerung ablehnen. Das sei „ein amerikanisches Ding, wie Pop Tarts“. Mancher Europäer, der sich an jenem süßlich-klebrigen Frühstücksgebäck schon einmal den Mund verbrannt hat, wird diese Warnung, die Verhältnisse dies- und jenseits des Atlantiks nicht zu vergleichen, auch im Hinblick auf Volksabstimmungen allzu gerne beherzigen. Andere mögen ein wenig neidisch nach Westen schielen und finden, daß es dort – trotz allem – zuweilen demokratischer zugeht als auf dem Alten Kontinent.

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