Der politische Prozeß in Amerika verläuft, aus der Nähe erlebt, anders, als er vom Ausland gesehen wird. Vor allem in Europa sind die US-Maßnahmen auf internationaler Ebene für die Beurteilung der Regierung ausschlaggebend. So ist das Irak-Abenteuer der republikanischen Regierung von Präsident George W. Bush, das rein militärisch geplant wurde, ohne die Folgen einer Besetzung und die fremde Mentalität in Betracht zu ziehen, aus europäischer Warte eine Tragödie. Europa sieht darin eine Entwertung der amerikanischen Weltpolitik. In den USA teilen demokratische Oppositionspolitiker und einige Kommentatoren diese Europa-Sicht. Sie bekehren damit aber keine Gefolgsleute der harten Linie, die in Irak wohl einen „zähen Brocken“ sehen, mit dem die USA aber fertigwerden – wichtiger noch: fertigwerden müssen! Die USA dürften doch nicht vor einem Staat die Segel streichen, dessen Diktator an den Attentaten vom 11. September 2001 mitschuldig war – wie Präsident Bush und sein Stab, Vizepräsident Dick Cheney und Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice der Öffentlichkeit unablässig eingehämmert hatten. Teil dieser Zupack-These ist auch, daß der Rückzug aus dem Libanon nach den dortigen Terroranschlägen von 1983 und die Zurückhaltung der USA nach den Anschlägen von 1998 auf die amerikanischen Botschaften in Kenia und Tansania Schwäche markiert hätten, was keine Wiederholung erfahren dürfe. Die Verkündung der Lehre des Präventivkrieges 2002, die Feldzüge nach Afghanistan und Irak wurden in den USA von einer Mehrheit getragen. Und wenn die Kriegsgegner auch große Demonstrationen organisierten, kam die geplante Lawine von Protesten nie zustande. Die USA waren und bleiben geteilt; die Kluft wird tiefer. Denn diejenigen, die die Auslandeinsätze befürworten, verhärten sich, weil jetzt ihre „Boys“ in Afghanistan und Irak kämpfen; Unterstützung ist dabei vaterländische Pflicht. Alle Umfragen zeigen, daß Härte gegenüber Afghanistan, Irak, Nordkorea und neuerdings auch Iran von einer Mehrheit unterstützt wird, selbst wenn Teile dieser Mehrheit mit der sonstigen republikanischen Linie und mit Präsident Bush nicht einig sind. Diese Einstellung wird beispielsweise von vielen Demokraten geteilt, die in Sachen Altersfürsorge, Krankenpflege, Erziehung und Umweltschutz Bush voll ablehnen. Glaube an Amerikas höhere Mission in der Welt Der alte Glaube an den „American exceptionalism“, die außergewöhnliche, höhere Aufgabe Amerikas in der Welt, hat wiederholt Blütezeiten erlebt. Gegenwärtig erleben die USA eine solche Phase, getragen vor allem von den Neokonservativen und deren „religiösem“ rechtem Flügel. Wer irgendwo im Mittleren Westen im Auto Radio hört, kennt die Talkshows, die Diskussionsprogramme, die sozusagen ausnahmslos patriotisch, isolationistisch geprägt sind, reich an mehr oder weniger freundlichen Überlegenheitsgefühlen dem Ausland gegenüber – wenn der „Rest der Welt“ überhaupt je erwähnt wird. Außenpolitik ist in diesem großen Land in der Regel kein interessantes Konversationsthema. Die politische Sicht wurde in den USA längst vom Schlagwort geprägt: All politics is local, Politik ist die Summe aller lokalpolitischen Probleme. Deshalb wirkten die Attentate vom 11. September 2001 wie ein Donnerschlag: Für die unvorbereiteten Amerikaner veränderten sie die Welt. Für weltpolitisch beschlagenere Leute – meist Nicht-Amerikaner – änderte sich lediglich die US-Einstellung zur Welt. Aber das genügte, um Zurückschlagen und Präventivkrieg als „Krieg gegen den Terror“ zur vaterländischen Pflicht werden zu lassen. Vaterlandsliebe wird von Europäern gerne unterschätzt. In keinem anderen westlichen Land flattern so viele Landesfahnen vor privaten Häusern, auf Lastwagen und Privatwagen; die US-Fahne hängt in jedem Schulzimmer, wo die Schüler jeden Morgen mit Blick auf das Sternenbanner das „Pledge of Allegiance“, das Treuegelöbnis sprechen. Da kommt ein einfacher Stolz auf „Home of the Brave“, auf die Heimat der Tapferen zum Ausdruck: die Worte, mit denen die Nationalhymne endet. Präsident Bush und all seine neokonservativen Alliierten haben es nach dem 11. September 2001 meisterhaft verstanden, diese Heimatliebe zu mobilisieren. Die Sorgen der Amerikaner konzentrieren sich auf anderes. Eine Umfrage kurz vor dem republikanischen Konvent stellte fest, daß der immer noch kränkelnde Arbeitsmarkt die Hauptsorge von 25 Prozent der Befragten darstellt, gefolgt von den völlig ungenügend abgedeckten Krankheitskosten, die 24 Prozent am stärksten bewegen. Es folgte die Landessicherheit, also die Furcht vor Attentaten in den USA, mit 17 Prozent. Den Krieg im Irak nannten 13 Prozent als ihre Hauptsorge, wobei die Befürchtung, daß die allgemeine Wehrpflicht wieder eingeführt werden könnte, dafür den Ausschlag gab. Irak bewegt die Mehrheit also nicht besonders, unter anderem deshalb nicht, weil jetzt – im Gegensatz zum Vietnamkrieg – eine Berufsarmee die Bürde trägt. Auch die 1.000 Gefallenen und 7.000 Verwundeten fallen im Vergleich zu den 50.000 Gefallenen und rund 200.000 Verwundeten von Vietnam kaum ins Gewicht. Die Demokraten konnten sich nicht zu einer Alternativpolitik in Sachen Irak durchringen – weil zu viele finden, „Strafe muß sein“, und Irak nicht anzugreifen, wäre eine Einladung an andere Amerikahasser gewesen, den USA zu schaden. Damit kann John Kerry, der demokratische Kandidat, nur argumentieren, er hätte den Krieg auch geführt, bloß anders und besser. Außerdem hat Bush mit seinem Alleingang und seiner Art, Alliierte vor den Kopf zu stoßen, die USA diplomatisch und strategisch in eine Ecke manövriert, aus der eine demokratische Regierung sich nach dem Amtsantritt im Januar 2005 ebenso wie eine republikanische erst einmal mühsam wieder herauswinden müßte. Der Krieg in Irak ist somit keine der großen Streitfragen, an denen die Rivalen im Präsidentschaftswahlkampf sich messen können. Aber er stellt eine unterschwellige Gefahr dar, eine Variable in einer Gleichung, die plötzlich wie ein Vulkan ausbrechen könnte: Es müßte bloß eine größere Katastrophe in diesem Krieg eintreten, etwa die Ermordung wichtiger Leute, die Zerstörung der Ölproduktion, eine langfristige Unterbrechung der Pipelines. Oder es könnte zu einer Krise um Irak herum kommen, etwa zur Ermordung von Präsident Pervez Musharraf in Pakistan, zu einem Konflikt mit dem Iran – und alle Prognosen zum 2. November würden umgeworfen. Richard Anderegg berichtet für die Schweizer Zeitung „Schweizerzeit“ aus Washington. Im Internet unter: www.schweizerzeit.ch
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