Am 5. Dezember dürfen die Wähler in Ungarn zwei wichtige Fragen beantworten: Sollen die jenseits der ungarischen Grenze lebenden Magyaren auch die ungarische Staatsbürgerschaft bekommen? Und soll per Gesetz verboten werden, das Gesundheitswesen zu privatisieren? Beide Fragen werden an einem Tag und auf einem Wahlzettel abgehakt, obwohl deren Thematik denkbar weit auseinander liegt. Das Gesundheitswesen ist – wie in Deutschland auch – zu komplex, um mit einfachen Schlagworten Stimmung machen zu können. Daher dreht sich in der heftig entbrannten Debatte über diesen Volksentscheid alles um die Frage der doppelten Staatsbürgerschaft. Die Überlegung, die in den angrenzenden Staaten lebenden Magyaren offiziell als solche zu kennzeichnen, ist nicht neu. Während in Österreich, Kroatien und Slowenien nur einige zehntausend leben, sind es beim EU-Nachbar Slowakei über eine halbe Million. Hinzu kommen über 1,5 Millionen in Rumänien, etwa 300.000 in Serbien und über 150.000 in der West-Ukraine. Schon in der Endphase der EU-Beitrittsverhandlungen mehrten sich besorgte Stimmen, wonach sich erneut ein „Eiserner Vorhang“ zwischen den Magyaren senke, da sich mit der EU-Mitgliedschaft das Grenzregime an der Ost- und Südgrenze verschärfen werde. Um den mit erheblichen finanziellen Mitteln aus Brüssel verstärkten Schutzwall etwas durchlässiger zu machen, hatte der damalige Premier Viktor Orbán in seiner Regierungszeit 1998 bis 2002 das „Statusgesetz“ ausgearbeitet (JF 30/01). Gemäß dieser Regelung hätten die sich als ethnische Ungarn fühlenden Bürger der Nachbarstaaten einen Ausweis erhalten, der sie zu zahlreichen Vergünstigungen im „Mutterland“ berechtigt hätte. Ganz wesentlich wäre dabei die Erlaubnis gewesen, mit diesem Ausweis nach Ungarn einreisen zu dürfen. Letztlich wurde das Statusgesetz zwar verabschiedet, aber nur in einer abgeschwächten Form. Warnung vor Kosten der Doppelstaatsbürgerschaft Nach der erneuten Regierungsübernahme durch Sozialisten (MSZP) und Linksliberale (SZDSZ) im April 2002 wurden die diplomatischen Anstrengungen für eine starke internationale Vertretung der Magyaren durch das Mutterland umgehend zurückgefahren. Doch verschiedene Nichtregierungsorganisationen gaben sich mit diesem Rückschlag nicht zufrieden und begannen Unterschriften für einen Volksentscheid zu sammeln. Federführend dabei war der Weltverband der Magyaren (MVSZ). Gleich nachdem der Termin des Referendums feststand, brachten sich die Parteien in Position. SZDSZ-Chef Gábor Kuncze rief die Wähler dazu auf, beide Fragen mit Nein zu beantworten. Aus „Informationsmangel“ könnten die Bürger keine richtige Entscheidung fällen. Orbáns oppositionelle Fidesz-MPSZ hingegen forderte von einen Wählern zweimal Ja. Damit wird der Volksentscheid unfreiwillig zu einer nationalen Zwischenwahl, die die Stimmung weiter anstachelt. Während die Linke – wie 1990 Oskar Lafontaine in Deutschland – vor allem von den Kosten redet, die mit einer schlagartigen Ausweitung der Staatsbürgerrechte auf mindestens 800.000 Menschen (im Extremfall etwa drei Millionen) auf den Staatshaushalt zukämen (500 Milliarden Forint/2,1 Milliarden Euro), betonen die Bürgerlichen die patriotische Notwendigkeit für diesen Schritt. Die Stimme des Herzens dürfe nicht von finanzpolitischen Erwägungen übertönt werden. Orbán erklärte in einem Radiogespräch, es werde zu wenig betont, daß es sich um eine „Rückgabe“ der Staatsbürgerschaft handele, denn diese Magyaren bzw. ihre Vorfahren jenseits der Grenze hätten ja schon einmal die ungarische Staatsbürgerschaft besessen. Diese sei ihnen dann aber weggenommen worden, nachdem das Königreich durch das Friedensdiktat von Trianon 1920 zwei Drittel seines Territoriums abtreten mußte. Orbán fügte hinzu, insgesamt 14 bis 15 Millionen Magyaren (Ungarn hat etwa 10,5 Millionen Einwohner) bedeuteten auch einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung für das Mutterland, da sich die wirtschaftlichen Grenzen verschieben würden. Am 27. November, der kurzerhand zum „Tag der Zusammengehörigkeit“ gekürt wurde, demonstrierten in Budapest etwa 100.000 Menschen für das Anliegen des Fidesz. Die Regierungskoalition versucht mit dem Hinweis auf eine mögliche massenhafte Einwanderung in die sozialen Sicherungssysteme zu kontern. Die meisten Leistungen sind jedoch abhängig von Arbeitsplatz, Aufenthaltsort und Dauer der Beschäftigung. Ob Kindergeld, Mutterschaftsgeld, Arbeitslosengeld oder Rente – man bekommt diese Zuwendungen nicht einfach so, weil man einen ungarischen Paß besitzt. Außerdem sind sich alle Beteiligten einig, daß per Gesetz noch geklärt werden muß, was genau diese doppelte Staatsbürgerschaft an Rechten und Pflichten beinhalten wird. Hierbei geht es auch um die heikle Frage des Wahlrechts. Es ist völlig klar, daß die Auslandsmagyaren, die allein aufgrund ihrer Herkunft oft genug schikaniert werden – oder sogar tätliche Angriffe erdulden müssen wie jüngst in der Serbischen Woiwodina – ihr Kreuzchen eher im rechten Spektrum der Wahlpalette machen würden. Auch deswegen zieht die Linke alle demagogischen Register, um dieses „rechtslastige“ Wählerreservoir von den Urnen fernzuhalten. In Deutschland gab es ja ähnliche Bedenken gegenüber Spätaussiedlern, die dem Unionslager zuneigen, während von der verstärkten Einbürgerung Nichtdeutscher vornehmlich SPD, Grüne und FDP profitieren. Ungarn-Paß auch für Außenminister Fischer Wie das Referendum ausgehen wird, läßt sich schwer prophezeihen. Für die doppelte Staatsbürgerschaft hat sich inzwischen eine regelrechte Volksfront gebildet, die offenbar auch das Wohlwollen des deutschen Außenministers Joseph Fischer genießen soll. Bei seinem Finnlandbesuch soll er der dortigen Tageszeitung Iltalehti anvertraut haben, daß auch er sich die ungarische Staatsbürgerschaft holen könnte, wenn das Referendum erfolgreich ist. Fischers Vorfahren stammen ja bekanntlich aus Ungarn. Damit stünde Fischer Seit‘ an Seit‘ mit sämtlichen bürgerlichen und nationalistischen Parteien in Ungarn. Darüber hinaus haben sich auch die Kirchen zu Wort gemeldet. Die katholischen, reformierten und protestantischen Kirchenoberen haben ihre Gläubigen dazu aufgefordert, mit Ja zu stimmen. Der Bund der jüdischen Gemeinden Ungarns (Mazsihisz) hingegen bezog keine Stellung, sondern forderte seine Anhänger nur zur Teilnahme an den Wahlen auf. Sollte das Referendum scheitern oder aufgrund einer zu geringen Teilnahme ungültig werden, wäre die „nationale Frage“ und die damit verbundene „Überwindung von Trianon“ wahrscheinlich für viele Jahre diskreditiert.
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