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„Als sei Abtreibung heute noch ein Problem“

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„Als sei Abtreibung heute noch ein Problem“

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Der Kinderwunsch deutscher Frauen, so kann man aktuellen Erhebungen entnehmen, hat sich während der letzten Jahrzehnte nur geringfügig verändert. Drei Kinder ist die durch alle Schichten am häufigsten geäußerte "Wunschsumme" heranwachsender Mädchen. Doch so recht passen wollen Kinder dann tatsächlich selten. Mal mangelt es an den idealen Berufsaussichten, mal an den idealen Wohnverhältnissen, dann am passenden Mann oder dessen Kinderwunsch. Als wenn es nicht demnach privat bereits eines beherzten Entschlusses bedürfe, tut die oft unverhohlene Außensicht ein übriges. Mein Wohnort liefert ein beredtes Beispiel: Noch vor zwei Jahren stand der Kindergarten des 220-Seelen-Dorfes kurz vor der Schließung. Das Geburtentief hatte sich seit der Wende nicht mehr erholt, Jahr für Jahr wurden weniger Kinder geboren. 2004 nun dürfte ein sensationelles Rekordjahr werden: sechs neue Geburten haben sich bereits für dieses Jahr angekündigt. Deutschlandweit kommen achteinhalb Geburten auf 1.000 Einwohner, dagegen reicht unser Dorf, hochgerechnet, beinahe an afghanische Fertilität – die die welthöchste ist – heran. Natürlich bedauert das niemand, allgemein wird der Kindersegen begrüßt. Im Einzelnen jedoch weist der Dorfklatsch ein anderes Bild aus: Eine der Schwangeren wird 40 sein, wenn ihr Kind – das vierte – zur Welt kommt. Ob das wirklich sein mußte – jetzt noch? Eine andere ist zwar erst 24 – die hat aber doch gerade endlich Arbeit gefunden, nennt man das noch verantwortlich? Eine weitere Familie erwartet das dritte Kind – gut und schön, heißt es, aber der Schnee wird erst nach neun auf dem Bürgersteig geräumt, und die Wäsche hängt manchmal tagelang. Bei einem anderen Paar stellt sich die im Haus lebende Schwiegermutter quer: "Als sei Abtreibung heute noch ein Problem", quäkte sie durchs Dorf und jedem ins Ohr, der es gar nicht hören wollte. Und die sozialschwachen Kaminskis – die haben’s doch wohl nur aufs Kindergeld abgesehen. Der fünffache Familienvater Max Mayer kennt ähnlich krude Erwartungshaltungen der Mitwelt und bringt seine Antwort auf einen Punkt: "Man muß halt gegen den Strom schwimmen – und dabei wird man eben naß."

Daß Ute und Max Mayer viele Kinder haben wollten, stand für beide schon früh fest. Voller Ideale war das junge Paar: man ernährte sich vegetarisch, kaufte beim Bio-Bauern Getreide und buk das Brot selbst, half beim Aufbau eines Dritte-Welt-Ladens, beschäftigte sich mit Waldorf-Pädagogik, engagierte sich in der Lebensschutz-Bewegung. Der große Freundeskreis war weitgehend in der wertkonservativen Fraktion der damals noch jungen Grünen beheimatet – man las und diskutierte viel auf der Suche nach Alternativen in einer satter werdenden Welt.

Die Mayers waren immer in Bewegung, geistig wie räumlich. Großstädter Max, selbst viertes Kind einer Lehrerfamilie, hatte seine Frau im Rahmen der evangelischen Jugend kennengelernt. Nachdem sie einen gemeinsamen Haushalt gegründet hatten, zogen sie immer wieder um – die fünf Kinder wurden an fünf verschiedenen Orten geboren. Diese Rastlosigkeit bedauern die Eltern im nachhinein: "Kinder brauchen Wurzeln", stellen sie heute fest, "und manches hätten wir ihnen in dieser Hinsicht einfach nicht antun sollen." 1992 kauften sie, auch weil alles andere unerschwinglich war, ein kleines Reihenhaus in Ute Mayers Heimatort.

Fleisch auf dem Mittagstisch und auch Fernseher im Haus

350 Einwohner, die nächste Stadt – Heilbronn – ist vierzig Kilometer entfernt. Ob das Landleben günstig sei, gerade für Kinder, bezweifelt der Vater heute. "Allein diese dauernden Fahrwege, die Chauffeurdienste hierhin und dorthin, ganz abgesehen von den alltäglichen Notwendigkeiten – bereits das läßt die Vorteile des Landlebens schon ganz schön klein werden." Und dann die Unmöglichkeit eines irgendwie anderen Lebensstils in einem Dorf – Max Mayer schüttelt den Kopf. "Wer da mit der Automarke nicht mithalten kann oder auch nur keinen Fernseher hat, der wird doch mitleidig belächelt. Das ist weder für die Kinder noch für uns Eltern einfach." Die Stadt, so scheint es dem 46jährigen, hätte für die Durchhaltung eines alternativen Konzeptes immerhin einen Kontext, eine Art "Szenen-Halt" geboten. So etwas sucht man in dörflicher Umgebung freilich vergebens. Und so gibt es bei Familie Mayer längst Fleisch auf dem Mittagstisch, Fernseher im Haus und zahlreiche Computer – um so mehr, wenn der älteste Sohn, der einundzwanzigjährige Thomas, mit Freunden eine der beliebten "LAN-Parties" feiert und sein Zimmer sich in ein Netzwerk verwandelt. "Einen strikten alternativen Lebensstil kann man hier schwer durchhalten. Spätestens, als die Klassenkameraden der Kinder mit Stirnrunzeln und Naserümpfen von ‚dieser seltsamen Familie‘ sprachen, mußten wir unsere Ideale auflockern", sagt Max Mayer. "Eigentlich haben wir uns gar nicht verändert – die Welt ist eine andere geworden, und schließlich entwickeln sich die Kinder auch anders. Erziehung ist nicht immer planbar, vieles geschieht einfach." Auf den Erstgeborenen folgten in relativ kurzen Abständen drei Töchter und 1995 der Nachzügler Jonathan.

Max Mayer, der siebzehnjährig Schule und Elternhaus verließ, um sich zum Jugend- und Heimerzieher ausbilden zu lassen, beschloß mit 32 Jahren, doch noch das Abitur nachzuholen – das wollte er sich selbst beweisen. Abendgymnasium kam wegen der Berufstätigkeit nicht in Frage, da bot sich nur der Bildungsweg des Fernunterrichts an. Nicht abends – der Abend gehörte der damals sechsköpfigen Familie -, vielmehr nachts büffelte der Vater für den Abschluß. Manchmal saß er nachmittags auch mit jungen Abiturienten aus seinen Jugendgruppen zusammen, da wurde dann altersübergreifend mit Gewinn gepaukt. "Wozu eigentlich?" fragte sich Mayer, als er das Abi in der Tasche hatte, und setzte die Nachtarbeit gleich fort, per Fernstudium an der Uni Hagen absolvierte er in der Rekordzeit von drei Jahren einen Magisterstudiengang. "Natürlich war das anstrengend – aber die Freude an der geistig-wissenschaftlichen Arbeit hat überwogen." Das Geld war knapp wie eh und je, Bücher konnten nur selten erworben werden, selbst Grundlagenliteratur wurde nur ausgeliehen, viel memoriert: "Wandelndes Literaturlexikon" wird er gelegentlich von Freunden genannt. In den Nächten eines Jahres setzte der dann bereits fünffache Vater noch eins drauf: eine Promotionsarbeit, durch die er sich heute Dr. phil. nennen darf. "Das war aber keinesfalls so, daß diese jahrelange Schufterei auf dem Rücken der Familie ausgetragen wurde", stellt Max Mayer fest und schaut wie zur Rückversicherung seine Frau an. Die nickt und ergänzt: "Eigentlich hat uns Maxs Lerneifer alle beflügelt. Auch die Kinder fanden das toll und haben ihn immer wieder bestärkt." Ute Mayer hatte ihr Sprachen-Studium zugunsten der Kinder aufgegeben und sich zur Übersetzerin ausbilden lassen. Längst übt sie ihren Beruf nur sporadisch und auf Honorarbasis aus – die Zwänge des Familienlebens lassen es nicht anders zu.

Seit fünf Jahren ist die Familienmutter durch eine schwere Diabeteserkrankung des jüngsten Sohnes stark ans Haus gebunden. Die bei dem damals dreijährigen Jonathan diagnostizierte Krankheit stellte das Familienleben auf eine harte Probe. Nicht nur, daß die Nahrungsaufnahme stark reglementiert ist – auch während der Schulstunden muß der Junge kleine Mahlzeiten einnehmen, auswärtige Kindergeburtstage können nur nach strikten Anweisungen gegenüber der einladenden Familie gefeiert werden -, viermal täglich muß Insulin gespritzt werden, in regelmäßigen Abständen zusätzlich gepiekst werden, um den Blutzucker zu kontrollieren. Mittlerweile übernehmen Beate und Marianne, die beiden "mittleren" Mädchen, gelegentlich die Injektionen, so daß Ute Mayer hin und wieder Termine ohne Sohn und medizinisches Handgepäck wahrnehmen kann. Als Ventil und notwendiges Abwechslungsprogramm beschreibt die Mutter ein Hobby, das sie mit ihrem Mann vor wenigen Jahren für sich entdeckt hat: die Tanzabende im Square-Dance-Club in einem benachbarten Dorf. Ute Mayer gerät ins Schwärmen, wenn sie von den so erholsamen wie verausgabenden Stunden erzählt, die sie – gelegentlich auch ohne Mann, wenn der beruflich verhindert ist – in diesem lebendigen Tanzkreis verbringt.

Die flotten Rhythmen, die herzlich-offene Art der Tänzer hätten sie sofort mitgerissen. "Diese Tanzkluft aber mit Petticoat und Rüschenpants, ach Gott, das würde sicher nichts für mich sein", erzählt Frau Mayer und schildert lachend ihre ersten Tanzschritte in Jeans und Pulli. Das Unbehagen verflog schnell, längst ist sie Square-Dancer von Kopf bis Fuß. Dennoch kann das Ehepaar maximal für zwei, drei Stunden gemeinsam unterwegs sein – vor Jonathans Geburt waren immerhin, wenn auch selten, mal zweitägige Entspannungsreisen drin.

Die Belastung durch die Krankheit des Kindes, sagt die Mutter, habe die letzten Jahre zu den wohl anstrengendsten gemacht. Stressig sei es zwar auch mal gewesen, als die dicht aufeinanderfolgenden ersten vier Kinder alle noch klein waren, "aber so ab Mitte Dreißig, da haben die Kräfte schon deutlich nachgelassen", gibt Ute Mayer zu.

Dennoch, so empfinden es die Mayers, kamen – und kommen – die größeren Behinderungen und Einengungen von außen. Mit einer Handvoll Kinder, sagt Max Mayer, eckt man an. Das sei nicht nur das Getuschel hinter dem Rücken, ständig werde man "blöd angelabert", ob im Alltag oder bei Ausflügen. Urlaub wurde deshalb gern in Familienferiendörfern gemacht, da war man wenigstens einigermaßen "unter Gleichen". Als solche Ferienfahrten nicht mehr bezuschußt wurden, fiel auch das weg, und mittlerweile sind die vier großen Kinder auch aus dem Alter raus, in dem man noch gern mit Mama und Papa Urlaub macht. Gern hätte die Tochter kürzlich an einem schulischen Austausch teilgenommen – leider fehlten da die finanziellen Möglichkeiten. Allenfalls Zelturlaub sei noch drin, sagt Ute Mayer – was für die fünffache Mutter selbst jedoch wenig Entspannung verheißt.

In unserer heutigen materialistisch geprägten Gesellschaft, so stimmen die Eltern überein, sei Geldmangel eine Todsünde, die zur Ausgrenzung und letztlich Resignation führe. Resigniert wirken die beiden Mittvierziger nun aber gar nicht. Fröhlich und interessiert erscheinen die beiden, und bis heute ist deutlich, daß die Familie schon immer ein "offenes Haus" pflegte. Früher leitete Ute Mayer im Hause Stillgruppen, führte Max Mayer verschiedene soziale Projekte durch, heute sind die Freunde der Kinder regelmäßige Gäste.

Überlebenstraining in der von Verblödung bedrohten Welt

Wo hat Resignation Platz in einer solchen Atmosphäre der Aufgeschlossenheit? "Es ist weniger eine Resignation, die sich nach innen, auf die Familie selbst richtet", erklärt der Vater, aber der Blick auf die Außenwelt – der lasse einen schon mal entmutigen. Überlebenstraining in einer von Verblödung bedrohten Welt, das sei eben angesagt. Der zusätzlich so deutlich empfundenen Benachteiligung kinderreicher Familien sei dabei recht einfach abzuhelfen, sagen die Mayers, die sich früher stark in der ÖDP engagiert hatten. Immerhin gebe es längst ausgefeilte Modelle, die neben einem nicht nur finanziell, sondern auch sozial relevanten Erziehungs- und Hausfrauengehalt auch eine steuerliche Entlastung solcher Familien vorsehen, die schon aufgrund ihrer Größe und des dadurch hohen Verbrauchs allein an notwendigen Gütern durch ein stark erhöhtes Mehrwertsteueraufkommen belastet sind.

Aber Politik werde eben von Leuten bestimmt, die mit solchen Problemen nie selbst konfrontiert sein werden. Dazu zählt für den Familienvater auch das Feld der Arbeitspolitik. Seine dreijährige Arbeitslosigkeit beschreibt Mayer als eines der prägenden Erlebnisse. Als sein kirchlicher Arbeitgeber dem Sozialdiakon – der damals bereits zum fünften Mal Vater geworden war – unvermittelt gekündigt hatte, begann eine harte Zeit für die Familie, die Sparen bereits seit jeher gewöhnt war.

Dem Verlust einer bis dahin wenigstens hinreichenden materiellen Basis drohte ein sozialer Abstieg zu folgen. "Das ging bis dorthin, was man den ‚Verlust des Individuums‘ nennen kann", beschreibt Mayer diese harten Jahre. "Was diese Zeit mit 150 geschriebenen Bewerbungs- und ebenso vielen Absagebriefen bedeutete, in einem Dorf voller gutverdienender Handwerksfamilien und Landwirten, voller Familien, wo Zweit- und Drittwagen längst die Norm sind, kann sich kaum jemand vorstellen."

Die Rettung war schließlich die Annahme einer ABM-Stelle, die als unbesetzbar galt: Jugendarbeit mit als "äußerst schwierig" geltenden russischen Aussiedlern; Raumpflege und Toilettenputzen inbegriffen. Max Mayer kämpfte sich an dieser Stelle durch – "Sie glauben ja nicht, wie viele Bücher ich seither gelesen habe, um mich mit der Situation der Spätaussiedler vertraut zu machen, obwohl die Wirklichkeit immer wieder anders ist als das Buchwissen"- und ist mittlerweile wieder in einem festen Arbeitsverhältnis.

Gegen den Strom zu schwimmen zehrt an den Kräften, wer wollte das leugnen. Aber es läßt auch Muskeln wachsen. Und wie schön, wenn man dann eine Bucht gefunden hat, in der es sich trotz Strömung glücklich leben läßt – wie die Mayers.

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