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„Wir sind die Mehrheit in diesem Land“

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Nach den bürgerkriegsähnlichen Unruhen, bei denen fast 80 Menschen starben und Hunderte verletzt wurden, hat Bolivien seit dem Wochenende einen neuen Präsidenten. Er heißt Carlos Mesa, ist 50 Jahre alt und gilt als konziliant. Einen ersten Erfolg konnte er bereits verbuchen – die Revolte der indianischen Ureinwohner gegen die unerträglichen sozialen Gegensätze ist vorerst beendet.

Tausende von Kleinbauern und Minenarbeitern, die in der Hauptstadt La Paz den Sicherheitskräften erbitterte Kämpfe geliefert haben, sind auf dem Weg nach Hause. Auch in den anderen Städten des Landes kehrt wieder Ruhe ein – die Straßenblockaden, mit denen militante Gewerkschaftsanhänger und "Cocaleros" (Koka-Bauern) vor allem das Hochland der Anden überzogen hatten, um die Versorgungswege lahmzulegen, werden nun von Bulldozern der Armee abgetragen.

Wer ist der neue Mann, der Bolivien aus seiner schwersten Krise der letzten einhundert Jahre führen soll? Nach der Flucht von Präsident Gonzalo Sánchez de Lozada ins US-Exil nach Miami trat Carlos Mesa als Vizepräsident dessen Nachfolge an. "Ein Journalist ohne politische Erfahrung" überschrieb die in südamerikanischen Belangen gut informierte spanische Tageszeitung El País ihren Artikel über den neuen bolivianischen Regierungschef. Dennoch billigte sie ihm das Format zu, die Dinge zum Besseren zu wenden: "Er ist intelligent, gebildet und redet Klartext", heißt es in dem Text, der auch Mesas konsequentes Eintreten gegen die herrschende Korruption im Lande nicht unerwähnt läßt. Und: "Seine Ideen sind eher auf der linken als auf der rechten Seite des politischen Spektrums angesiedelt."

Der 50jährige Hoffnungsträger stammt aus einer Akademikerfamilie, beide Elternteile waren Historiker. Nach der Schule studierte Carlos Mesa an der Madrider Complutense-Universität ebenfalls Geschichtswissenschaften. Nach seiner Rückkehr in die südamerikanische Heimat widmete er sich seiner geheimen Leidenschaft, dem Kino. Er veröffentlichte zwei Bücher über den bolivianischen Film und wechselte schließlich zum Radio, wo er für die Kulturredaktion arbeitete. Der nächste Schritt führte ihn zum Fernsehen und damit zu einem sehr viel stärkeren politischen Engagement, denn er zeichnete nun für einen unabhängigen Nachrichtendienst verantwortlich. Als er sich von Sánchez de Lozada für dessen Movimiento Nacionalista Revolucionario (MNR) als Kandidat aufstellen ließ, dachte er nicht in den kühnsten Träumen daran, einmal selbst Präsident zu werden. "Für diesen Literaten, Historiker und Journalisten war Politik immer ein Gegenstand der Analyse, nie der Selbstdarstellung", schrieb El País.

Daß er nun selbst die Geschicke seines Landes lenken muß und dabei ohne ein gewisses Maß an Selbstdarstellung nicht auskommen wird, verdankt er seinem Vorgänger, der an seinem mangelnden politischen Instinkt und an der wirtschaftlichen Misere des Andenstaates gescheitert war. Gonzalo Sánchez de Lozada – einer der reichsten Männer des Landes – vereinbarte mit den USA und Mexiko die Lieferung bolivianischen Naturgases. Das Geschäft kommentierte die Madrider Tageszeitung El Mundo mit den Worten: "Die Gas-Exporte waren die einzige Hoffnung für Bolivien, um aus den roten Zahlen zu kommen. Das jährliche Staatsdefizit beträgt zwischen 300 und 500 Millionen Dollar." Wäre das Geschäft zustande gekommen, wäre das Brutto-Sozialprodukt des Landes bis 2008 jährlich um ein Prozent gestiegen.

Koka-Verkauf wurde im Interesse der USA verboten

Unter rein ökonomischen Gesichtspunkten wäre es also durchaus vernünftig gewesen, die Vereinbarungen mit den USA und Mexiko in die Tat umzusetzen. Ob der Preis für das Gas angemessen war oder nicht, wie die Opposition behauptete und der Regierung somit den Ausverkauf nationaler Interessen vorwarf, mag dahingestellt bleiben; es kam noch ein zweiter Aspekt hinzu, der das Geschäft zu einem Politikum machte, nämlich der Umstand, daß das Gas ausgerechnet über chilenische Häfen exportiert werden sollte, Häfen, die Chile in einem blutigen Bürgerkrieg, der von 1879 bis 1883 zwischen beiden Staaten tobte und der sich tief in das kollektive Bewußtsein Boliviens eingebrannt hat, erobert und bis heute behalten hat. Seit dieser Zeit fehlt Bolivien jeder Zugang zum Meer, ein Verlust, unter dem es noch heute leidet.

Aber dennoch war das Erdgas-Geschäft nur der Funke, der das soziale Pulverfaß endgültig zur Explosion brachte. 64 Prozent der Bevölkerung leben in Bolivien in Armut, 34 davon in besonders bitterer. Als die Regierung von Präsident Sánchez de Lozada damit begann, die Trocknung, den Transport und den Verkauf von Koka-Pflanzen zu verbieten, gewann der Konflikt an Dynamik. Das rigoros durchgesetzte Verbot lag zwar im Interesse der USA, die den Kokain-Schmuggel in ihr Land zurückdrängen wollten, nicht aber in dem der vielen bolivianischen Kleinbauern, die aus Existenzgründen gezwungen sind, das Rauschgift anzubauen und zu ernten. Die Versprechungen der Regierung, Alternativen zum Koka-Anbau zu entwickeln, blieben meist unerfüllt – und wo sie erfüllt wurden, hatten die Kleinbauern das finanzielle Nachsehen, denn mit der Ernte von Yuka und Ananasfrüchten läßt sich nur ein Zehntel von dem erwirtschaften, was die kolumbianische Mafia für Kokain bezahlt.

Im Januar 2002 wurden elf "Cocaleros" bei einer Militäraktion getötet. Seit dieser Zeit kam das Land nicht mehr richtig zur Ruhe. Als die Regierung auf Wunsch des Internationalen Währungsfonds das Defizit des Staatsetats von voraussichtlich 9,5 Prozent in diesem Jahr verringern wollte und deshalb Steuererhöhungen ankündigte, schwappte die Gewalt in die Städte. Unter den Demonstranten befanden sich zum ersten Mal auch Polizeieinheiten, die erst nach langwierigen Verhandlungen zu bewegen waren, in ihre Kasernen zurückzukehren.

Vor einem Monat begannen Mitglieder der Gewerkschaft Central Obrera Boliviana (COB) und Anhänger des Movimiento al Socialismo (MAS) des radikalen Indianerführers Evo Morales das Land mit Straßensperren und einem Generalstreik zu überziehen. Die Regierung versuchte, die Revolte mit Gewalt niederzuschlagen und setzte Militär ein. Mehrere Dutzend Menschen kamen ums Leben, Hunderte wurden verletzt.

Die Opposition war von Anfang an entschlossen, sich diesmal auf keinen Kompromiß mit der Regierung einzulassen. "Wir werden die Auseinandersetzung nicht aufgeben, bis der Präsident vertrieben ist. Es ist an der Zeit, daß Bolivien von den Ureinwohnern regiert wird, denn wir sind die Mehrheit in diesem Land", skizzierte Baldomero Condori, einer der regionalen Führer des COB, die Ziele des Aufstands.

In der vergangenen Woche begann der Zusammenhalt der Regierung zu bröckeln. Zuerst distanzierte sich Vizepräsident Mesa von dem harten Durchgreifen der Sicherheitskräfte, dann kündigte die Koalitionspartei von Manfred Reyes Villa, die Nueva Fuerza Republicana, die Zusammenarbeit mit Präsident Sánchez de Lozada auf, und schließlich entzogen auch die USA dem unter Druck geratenen Regierungschef ihre Loyalität.

Das Ende kam schnell und hätte aus einem Drehbuch für einen Hollywood-Film stammen können: Der gescheiterte Präsident schrieb einen Rücktrittsbrief an das Parlament und verließ seinen Regierungssitz durch die Hintertür wie ein Verbrecher, der das Weite sucht. Eine Wagenkolonne brachte ihn, drei Minister seiner Regierung und die Angehörigen zu einer Militärbasis. Von dort aus transportierte ein Hubschrauber Sánchez de Lozada zu einem Flughafen. Obwohl Evo Morales die Bevölkerung dazu aufrief, alles zu tun, um die Flucht des zurückgetretenen Präsidenten zu vereiteln, damit er in Bolivien wegen "wirtschaftlichen Genozids" vor Gericht gestellt werden kann, erreichte dieser wohlbehalten die USA.

Unmittelbar nach seiner Vereidigung ordnete Mesa sein Kabinett neu. Die 15köpfige Ministerriege besteht größtenteils aus parteiunabhängigen Experten, die der alten Regierung nicht angehörten. Juan Siles del Valle wird Außenminister, Gonzalo Arredondo Verteidigungsminister und Javier Cuevas Agrarminister. Die Ministerien für "Indianische Angelegenheiten" und für die "Beteiligung des Volkes an der Politik" wurden neu geschaffen.

Zusätzlich wurde Guadalupe Cajías zum Anti-Korruptionsbeauftragten des Präsidenten berufen. In seiner Antrittsrede hat Mesa Neuwahlen und die Bildung einer verfassungsgebenden Versammlung versprochen. Außerdem kündigte er die Revision umstrittener Kraftstoffgesetze sowie eine Untersuchung der blutigen Unruhen an. Demnächst soll außerdem eine Volksabstimmung über das umstrittene Erdgasgeschäft mit den USA und Mexiko stattfinden.

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