Die Zahl ist monströs: In Deutschland werden jedes Jahr rund 130.000 Föten abgetrieben – wenn man den amtlichen Angaben des Statistischen Bundesamtes glaubt. Lebensschützer vermuten aber, daß noch viel mehr ungeborene Kinder im Mutterleib getötet werden – die meisten rechtswidrig, aber straffrei nach der sogenannten Beratungsregelung in Paragraph 218a Absatz 1 Strafgesetzbuch. Abtreibungsgegner schätzen die Dunkelziffer auf einen sechsstelligen Bereich. „Nach vorsichtigen Berechnungen handelt es sich um rund 250.000 Fälle pro Jahr, rund ein Viertel bis ein Drittel unseres Nachwuchses“, sagt Claudia Kaminski, die Vorsitzende des Bundesverbandes Lebensrecht (BVL), in dem sich Abtreibungsgegner und Lebensschützer zusammengeschlossen haben. Zu den bekanntesten gehören die Aktion Lebensrecht für Alle (ALfA), die Christdemokraten für das Leben (CDL) und die Juristen-Vereinigung Lebensrecht (JVL). Groß ist inzwischen das Wehklagen bundesrepublikanischer Politiker über die drohende Vergreisung der deutschen Gesellschaft – eine demographische Katastrophe, die die sozialen Sicherungssysteme kollabieren läßt. Und dann dieser Irrsinn: Jahr für Jahr wird quantitativ die Population einer Großstadt vernichtet, bevor sie überhaupt das Licht der Welt erblickt. „Die extreme negative demographische Entwicklung ist eines der Hauptprobleme Deutschlands – und es ist ganz wesentlich durch die hohe Zahl an Abtreibungen geprägt“, davon ist die Ärztin und BVL-Chefin Claudia Kaminski überzeugt. 95 Prozent aller Abbrüche zahlen die Kassen Seit 1976 wird die Masse dieser Abtreibungen von den Krankenkassen finanziert. In seinem Urteil vom 28. Mai 1993 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 88.203) diese bis dahin geltende Praxis überwiegend für verfassungswidrig erklärt. Aber der Bundestag hat am 21. August 1995 durch das „Gesetz zur Hilfe für Frauen bei Schwangerschaftsabbrüchen in besonderen Fällen“ eine Ersatzregelung getroffen, die dazu führt, daß die frühere Praxis nahezu bruchlos weitergeführt wird. So werden nach diesem Gesetz rechtswidrige Abtreibungen, die unter den Voraussetzungen des Paragraph 218a Absatz 1 StGB vorgenommen werden, von den Krankenkassen als Sachleistung gewährt, wenn die Einkünfte der jeweils betroffenen Frau gewisse Einkommensgrenzen, die deutlich über den Sozialhilfesätzen liegen, unterschreiten. Das Einkommen des Ehemannes oder Partners bleibt dabei unberücksichtigt. „Eine Prüfung der Bedürftigkeit durch die Krankenkassen findet so gut wie nicht statt. In der Praxis werden 95 Prozent aller Schwangerschaftsabbrüche von den Krankenkassen als Sachleistung übernommen. Die Anwendung des Gesetzes beschränkt sich also entgegen dem Wortlaut keineswegs auf besondere Fälle, sondern bildet den Regelfall“, erklärt Kaminski. Gegenüber dem früheren, vom Bundesverfassungsgericht gerügten Zustand hat sich praktisch nur geändert, daß die Länder den gesetzlichen Krankenkassen die dadurch entstehenden Kosten zu ersetzen haben. Vor diesem Hintergrund fordert der Bundesverband Lebensrecht im Zusammenhang mit der Gesundheitsreform eine Überprüfung der Finanzierung von Abtreibungen durch den Fiskus. In einem Brief des BVL an alle Bundestagsabgeordneten heißt es: „Nach dieser vom Gesetz sanktionierten Praxis wird die Tötung von bis zu 300.000 ungeborenen Kindern in Deutschland als eine durch Sozialversicherungsbeiträge oder Steuern zu refinanzierende Staatsaufgabe begriffen.“ Die Bundestagsabgeordneten werden aufgefordert: „Überdenken Sie diesen Komplex mit dem Ziel, durch Gesetz mindestens jede Beteiligung des Staates oder anderer öffentlich-rechtlicher Körperschaften an der rechtswidrigen Tötung ungeborener Kinder zu beenden.“ Für diese Forderung gibt es neben moralischen noch viele andere gute Gründe. Die gesetzliche Rentenversicherung gerät gerade auch deshalb in eine ausweglose Situation, weil die für ihr Funktionieren unerläßliche Generation künftiger Beitragszahler dezimiert wird. „Der gleiche Staat, welcher in der Rentenversicherung das Fehlen des Nachwuchses beklagt, finanziert über andere Gesetze dessen Tötung. Eine solche Logik kann man keinem ernsthaft mitdenkenden Bürger nahe bringen“, schreibt die BVL-Vorsitzende in ihrem Brief an die deutschen Volksvertreter. Inzwischen bezeichnet Kaminski die Reaktionen auf den Anfang September verschickten Brief als positiv, wenn auch verhalten. „Wir haben eine Reihe sehr ermutigende Antworten von Parlamentariern erhalten, die unsere Haltung unterstützen“, erklärte Kaminski auf Anfrage der JUNGEN FREIHEIT. Der BVL erkennt auch einen Zusammenhang zwischen der Liberalisierung der Abtreibung und der Zunahme von Gewalt unter Jugendlichen: „Jede Abtreibung ist ein Gewaltakt gegen die wehrlosesten Glieder der Gesellschaft. Die Tatsache, daß der Staat diese massenhaften Vorgänge nicht zur Kenntnis nimmt, sondern sogar selbst mit vielen Millionen Euro jährlich fördert, ist für die gesamte junge Generation ein falsches Signal. Durch diese Praxis wird deutlich gemacht, daß der ungeborene Mensch nichts wert ist, sondern mit Gewalt und sogar mit Hilfe des Staates getötet werden darf. Es ist ausgeschlossen, auf einer solchen Basis jungen Menschen noch eine Vorstellung von Menschenwürde auch der Geborenen zu vermitteln.“ Der BVL beklagt weiter, daß eine Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht durch die geltende Finanzierungspraxis von Abtreibungen verlorengeht: „Für das Rechtsbewußtsein in unserem Volk ist es unerträglich, daß rechtswidrige Handlungen durch Zwangsbeiträge oder Steuern vom Staat gefördert werden.“ Die daraus resultierende Verwirrung hat sich inzwischen bis in die Gerichte ausgebreitet. Einerseits darf die Tötung ungeborener Kinder nach einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs als „Babycaust“ bezeichnet werden, andererseits ist es zweifelhaft geworden, ob man Handlungen, die das Bundesverfassungsgericht für rechtswidrig erklärt hat, auch in der Öffentlichkeit rechtwidrig nennen darf, ohne – wie vor dem Landgericht Heilbronn geschehen – verurteilt zu werden. Der BVL mahnt: „Die junge Generation zu rechtsstaatlichem Denken zu erziehen, wird auf diese Weise erschwert, wenn nicht gar unmöglich gemacht.“ Dem Staat fehlt an allen Ecken und Enden Geld Wo dem Staat an allen Ecken und Enden das Geld fehlt, ist die Finanznot von Krankenkassen und öffentlicher Hand ein gewichtiger Grund, die bisherige Praxis zu ändern. Abtreibungen auf Krankenschein verursachen jedes Jahr nicht zu rechtfertigende hohe Ausgaben. So schreibt der BVL: „Es kann nicht sein, daß an vielen Stellen Leistungen des Staates gekürzt werden, die Finanzierung von Schwangerschaftsabbrüchen oder Folgekosten durch das Post Abortion Syndrom jedoch tabu bleiben.“ Unter diesem Syndrom versteht man die seelischen Erkrankungen, die Frauen oftmals nach einer Abtreibung erleiden und die mitunter lebenslang therapiert werden müssen. „All diese Gründe sind gewichtiger als das private Interesse, sich seiner Selbstverantwortung zu entledigen und die zudem tragbaren Kosten eines Schwangerschaftsabbruches auf die Allgemeinheit abwälzen zu können“, findet Kaminski. Ob die Bundestagsabgeordneten das genauso sehen, werden die Beratungen der nächsten Monate zeigen. Doch die Erfahrung lehrt: Die rot-grüne Bundesregierung und die Liberalen werden sich höchstwahrscheinlich wieder das „Selbstbestimmungsrecht der Frau“ auf die Fahne schreiben und solch „reaktionäre“ Ansichten empört zurückweisen. Und die von wertkonservativen Verfallserscheinungen gebeutelte Christen-Union wird beten, daß der bittere Kelch einer erneuten Abtreibungsdiskussion ihr erspart bleiben möge. Bundesverband Lebensrecht, Fehrbelliner Straße 99, 10119 Berlin, Tel: 030 / 44 05 88 66, Fax: 030 / 44 05 88 67, E-Post: info@bv-lebensrecht.de Aktion Lebensrecht für Alle e.V., Ottmarsgäßchen 8, 86152 Augsburg, Tel. 08 21 / 51 20 31, Fax 08 21 / 15 64 07, E-Post bqs@alfa-ev.de Juristen-Vereinigung Lebensrecht e.V., Postfach 50 13 30, 50973 Köln. Tel. 02 21 / 13 44 78, Fax 02 21 / 2 22 59 57, E-Post: info@juristen-vereinigung-lebensrecht.de