Der Suhrkamp Verlag hat wie kaum eine andere Institution den Geist der Bundesrepublik geprägt, doch seine Zeit ist vorbei. Der Patriarch ist tot und hat als Nachfolger nur Pygmäen hinterlassen. Und das vom Verlag betriebene „Projekt Aufklärung“ hat in ein Dunkelmännertum geführt, das auf ihn selber zurückschlägt. Den Dunkelmännern ist der freie geistige Austausch suspekt. Daran verdorrt auch die legendäre Suhrkamp-Kultur. Suhrkamp-Bücher sorgen kaum noch durch Qualitäten oder neue Impulse für Aufsehen, sondern durch Skandalisierungen, die von außen an sie herangetragen werden. Mit Ted Honderichs Essay „Nach dem Terror“ sollte – so der ursprüngliche Pressetext – eine „angewandte philosophische Ethik“ geboten werden, doch der offene Brief von Micha Brumlik, Chef des auf Holocaust-Forschung spezialisierten Frankfurter Fritz-Bauer-Instituts, in der Frankfurter Rundschau hat zu einem raschen Rückzieher geführt. Brumlik hatte bei Honderich einen „philosophischen Antisemitismus“ konstatiert und gefordert, das Buch „unverzüglich vom Markt zu nehmen“. Sein Begründung läßt sich in dem Satz zusammenfassen: „Schlimmer als Möllemann!“ Man könnte sich auf die Schenkel schlagen, weil die Publikation ausgerechnet auf Empfehlung von Jürgen Habermas zustande gekommen war. Der Künder vom herrschaftsfreien Diskurs hatte damit ganz nebenbei demonstriert, über wieviel institutionelle Macht er noch immer verfügt. Noch bemerkenswerter aber ist, daß beide, Habermas und Brumlik, sich in früheren Großdebatten stets einig waren, wobei Habermas den Kardinal, der als Wissenschaftler weniger bedeutende Brumlik einen der zahllosen Ministranten abgab. Honderichs Thema ist die Revolte gegen eine ungerechte Welt. Er fordert den Leser auf, in einem Gedankenexperiment das überkommene politische und ethische Koordinatensystem aufzugeben, um für wahrhaft ethisches Handeln frei zu werden. Das führt ihn im Schlußkapitel dazu, den palästinensischen Selbstmordattentätern eine Berechtigung zuzuerkennen, weil es ihnen um die Befreiung ihres Volkes gehe. Man kann diesen Gedankengang abenteuerlich oder unappetitlich finden, wirklich provokant ist er nicht. Ähnliche Überlegungen kennt man von den russischen Nihilisten des 19. Jahrhunderts, von Lenin, Trotzki oder von Saint Just. Im Kern geht um den Einsatz revolutionärer Gewalt, die ihre Legitimität nicht aus bestehenden Moral- und Rechtsvorstellungen bezieht, sondern aus einer antizipierten besseren Zukunft und ihrer Aussicht auf Erfolg. Im „Kommunistischen Manifest“ heißt es dazu so deutlich wie euphemistisch: „Die proletarische Revolution kann ihre Poesie nur aus sich selber schöpfen!“ Es handelt sich bei Honderich also um keinen akademisch verbrämten Antisemitismus, wie manche meinen, sondern – und das mag Habermas beeindruckt haben – um eine Variation altlinker Weltverbesserungsträume, die durch die Verbindung mit der Kritik an Israel und seiner historischen Selbstbeschreibung aktuelle Brisanz bekommt. Honderich mag in die Irre gegangen sein, doch was Suhrkamps Pressesprecherin gegenüber dem Berliner Literaturmagazin verlauten ließ, ist einfach nur peinlich: Der zuständige Lektor habe das Manuskript bloß „flüchtig gelesen“ und sich von dem an vielen Stellen brillant geschriebenen Buch zu sehr „ergreifen“ lassen. Suhrkamp leistet sich in seinem Lektorat also sentimentale Idioten? – Blödsinn! In seiner Chefetage sitzen vielmehr Memmen, die, wenn sie ehrlich wären, zugeben müßten: Wir sind unwürdige Erben unseres Verlagsgründers Peter Suhrkamp, der es sogar mit der Gestapo aufnahm! Da ist die öffentliche Erwiderung Honderichs von einem anderen Kaliber. Er hat Brumlik „Unverfrorenheit und Dummheit“ und ein „katastrophales Vergehen an Wahrheit und Anstand“ vorgeworfen. Er solle schleunigst von seinem Amt zurücktreten. Stützen auf die zugebilligte moralische Kompetenz Das wäre in der Tat das beste. Brumlik gehört zu den Amtsträgern, deren Reputation sich weniger auf wissenschaftliche Leistungen oder interessante Debattenbeiträge stützt, als vielmehr auf eine schicksalhafte moralische Kompetenz, die die deutsche Öffentlichkeit ihnen zubilligt. Interessant ist, daß Brumlik während des Skandals um Michel Friedman selber darüber klagte, daß in Deutschland die Juden in eine Schiedsrichterstelle genötigt würden, die sie gar nicht wollten. Jetzt, da es ihm paßt, nutzt er die historischen Komplexe selber aus und betätigt sich als Oberzensor. Das nennt man niederträchtig. Interessant an Honderichs Replik ist auch ihre politische Dimension. Für ihn ist Brumlik der Vertreter eines „Neuen Zionismus“, der jede Kritik an Israel unterbinden wolle. Entsprechende Tendenzen sind nicht zu übersehen. Der israelische Ministerpräsident Scharon drängte bei seinem London-Besuch Tony Blair, gegen die antiisraelische Berichterstattung der britischen Medien vorzugehen, was Blair aber zurückwies. In Frankreich ist vor wenigen Wochen der Historiker Alfred Grosser (kein „Alibi-Jude“, sondern ein wirklicher Freigeist) als Kolumnist von L’Express unter Protest zurückgetreten, nachdem seine positive Rezension eines israelkritischen Buches eine offenbar gesteuerte Leserbriefkampagne ausgelöst hatte. Entgegen den Gepflogenheiten des Blattes wurde ihm keine Gelegenheit zur Erwiderung gegeben. Die Zensurmaßnahme ging nicht auf die Redaktion oder die Leserschaft zurück, sondern auf die Besitzer des Blattes, die sich Israel verpflichtet fühlen. Brumlik stellt natürlich auf die historisch bedingten Sonderbeziehungen zu Israel ab, die kein ernsthafter Mensch bestreitet. Doch diese können sich nicht voraussetzungslos entfalten. Die wichtigste Voraussetzung ist, daß über politische und ethische Grundbegriffe, etwa über Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte, eine annähernde Einigkeit besteht. Es wird so getan, als sei diese Einigkeit ohne weiteres gegeben. Man muß aber nicht erst den Report von amnesty international zu Rate ziehen, ein Blick in die deutsche Tagespresse reicht, um zu erkennen, daß davon keine Rede sein kann. So ist in Israel beispielsweise das Folterverbot außer Kraft gesetzt. Darauf hat Georges Steiner in seiner Dankrede für den Börne-Preis ausdrücklich hingewiesen, doch die Reaktion in Deutschland war gleich null. Steinewerfende Palästinenserkinder werden ins Gefängnis gesteckt, randalierende Siedler dagegen mit Samthandschuhen angefaßt, das heißt, es besteht keine Gleichheit vor dem Gesetz. Die Zerstörung der Häuser von Angehörigen palästinensischer Attentäter bedeutet Sippenhaftung, die im Rechtsstaat geächtet ist. Gegen einen palästinensischen Funktionär, den die israelischen Justiz freigesprochen hatte, setzte die Regierung ein Killerkommando in Marsch, das aus Hubschraubern Raketen abfeuerte. Dabei kamen völlig unbeteiligte Passanten um. Man hat nicht gehört, daß diese Morde gesühnt wurden. Seit wann sind „fliegende Standgerichte“ mit Demokratie und Rechtsstaatlichkeit vereinbar? Die Begründungen lauten stets, man befinde sich in einem aufgezwungenen Krieg, doch diesen hält man durch Siedlungsbau und Landnahme selber am Kochen. Der von Scharon abgelöste frühere israelische Botschafter in Deutschland, Avi Primor, hat die Befürchtung geäußert, die Scharon-Regierung verfolge in den besetzten Gebieten eine „Homeland“-Strategie, wie sie das rassistische Südafrika betrieb. Der Friedensaktivist Uri Avneri, der sich auch dieser Zeitung schon geäußert hat (JF 23/02), sprach von der „totalen Demütigung, die jeder einzelne Palästinenser ohne Unterschied des Alters, des Geschlechts, der sozialen Schicht in jedem Augenblick seines Lebens“ durch die Besatzung erfährt. Demnach ist es naheliegend zu fragen, ob Israel sich unter dem Druck militanter Kräfte nicht längst dem Modell der „implodierenden Demokratie“ annähert, das unter amerikanischen Politologen diskutiert wird. Die äußeren Spielregeln – vor allem Wahlen – bleiben formal in Kraft, doch sie dienen nur dazu, eine undemokratische Wirklichkeit akklamatorisch abzusegnen. Es ist weiter zu fragen, ob Europa und Deutschland dazu Handreichungen leisten dürfen, und sei es durch eine Verschwörung des Schweigens. Man muß kein Anhänger von Huntingtons „Kampf der Kulturen“ sein, um zu erkennen, daß sich die Konflikte zwischen Orient und Okzident lebensgefährlich verschärfen werden, wenn der Westen Demokratie und Terrorbekämpfung als Exportschlager anpreist, die Araber diese aber nur in Form von Landraub, Bulldozern und doppelten Standards erleben. Man muß auch an die eigenen nationalen Interessen denken. Zwischen Deutschen und Arabern gibt es eine Menge kultureller Differenzen und Konflikte, aber keine Feindschaft. Man darf sie nicht dadurch heraufbeschwören, daß man sich zur Geisel von extremistischen Abenteurern in der israelischen Regierung macht. Über alles das müßte gesprochen werden, wenn man Honderich ernsthaft widersprechen will, und zwar offen und im politischen Teil der Presse. Brumlik dagegen begnügt sich mit einem Diskursverbot. Ob er die knieweiche Reaktion von Suhrkamp als Erfolg verbuchen kann, ist angesichts der Reaktionen darauf fraglich. Als satisfaktionsfähiger Diskutant hat er sich schon mal schachmatt gesetzt. Mehr als ein Pyrrhus-Sieg ist es sowieso nicht, denn in einer Demokratie kommt alles, was der Fall und politisch relevant ist, zur Sprache – logischerweise, sonst wäre sie ja keine Demokratie, sondern eine Meinungsdiktatur. Brumliks inquisitorische Frage, ob es bei Suhrkamp denn keine „Kontrolle“ des Lektorats gäbe, läßt die Vermutung zu, daß er der Repression vor der Meinungsfreiheit den Vorzug gibt. Das macht seinen Vorstoß so außerordentlich gefährlich. Deshalb muß man ihm energisch entgegentreten! Darüber bleibt der interessanteste Sachverhalt in dieser Affäre beinahe unbemerkt: Die herrschenden Dunkelmänner bilden keinen geschlossenen Block mehr! Es ist kein Zufall, daß Habermas als dem klügsten unter ihnen schwant, daß die Welt sich nicht länger unter die von ihm geformte ideologische Käseglocke stülpen läßt. Deshalb vollzieht er vorsichtige Lockerungsübungen. Suhrkamp aber hat sich durch die Unfähigkeit, das Buch durchzukämpfen, kompromittiert und an Reputation verloren. Ob ein Buch bei Suhrkamp erscheint oder in einem anderen Verlag, ist nach diesem Versagen weniger entscheidend als vorher. Andere Foren müssen und werden sich etablieren, um das Notwendige zu sagen und zu tun. Foto: Internetseite des Suhrkamp Verlages: Andere Foren müssen sich etablieren, um das Notwendige zu sagen