Wessen politische Strategie so perfekt aufgeht wie die von Bundeskanzler Wolfgang Schüssel für die letzten Nationalratswahlen am 24. November, der ist versucht, noch kühnere Rezepte zu entwickeln. Die Kernaussage seines Klubobmanns Andreas Khol, daß die (im Februar 2000 eingeleitete) Wende lebt, bedeutet allerdings längst nicht, daß die siegreiche ÖVP ihr Regierungsprojekt mit dem bisherigen Partner FPÖ fortführen will. Provokant formulieren die ÖVP-Granden, sie werden dies mit jenen tun, die am ehesten bereit seien, das „Wendeprojekt“ mitzutragen. Dabei läßt man bewußt offen, ob damit Freiheitliche, Sozialdemokraten oder gar Grüne gemeint sind. Tatsächlich wurde in den Nachwahltagen die Gerüchteküche nicht so sehr von Koalitionsspekulationen dominiert, als vielmehr von den Intrigen um Sein oder Nicht-Sein der schwer geschlagenen Freiheitlichen. Der erst kurz vor der Wahl an die Parteispitze gelangte FPÖ-Obmann Herbert Haupt, der die Wahlniederlage zwar nicht zu verantworten, aber zu tragen hat, wurde dabei zum Werkzeug einander verfeindeter Gruppen innerhalb der FPÖ: Am ersten Tag nach der Wahl schloß Haupt Haider-Kritiker quer durch die österreichischen Bundesländer aus, am Tag darauf rehabilitierte er sie wieder, um das Ganze in einem einigermaßen traurigen Fernsehauftritt pseudomodern als „Leadership“ zu interpretieren. Seitdem wird die Integrationskraft des braven (sprich: tapferen) Mannes arg bezweifelt. Auf den Plan getreten ist inzwischen auch Norbert Gugerbauer, der vor 16 Jahren gemeinsam mit Haider die unter FDP-Niveau dümpelnde FPÖ putschartig gekippt hat und damit die „rechtspopulistische“ Ära unter Jörg Haider einleitete. Nach neunjähriger Politabstinenz kehrte der frühere FPÖ- Generalsekretär und spätere Klubobmann bereits vor mehreren Monaten als Berater der scheidenden Vizekanzlerin und vormaligen FPÖ-Chefin Susanne Riess-Passer ins politische Umfeld zurück. Nun wird er von Haider-Kritikern als Joker im Poker um die künftige Entwicklung der Freiheitlichen gehandelt. Die Vorzeichen für den am 8. Dezember stattfindenden FPÖ-Parteitag sind aber trotzdem günstig für Haupt. Der amtierende Sozialminister dürfte als Kompromißkandidat gewählt werden, könnte aber möglicherweise eine Kooperation mit Gugerbauer und den hinter ihm stehenden Kräften suchen. Maßgebliche Kräfte, angefangen vom Staatsoberhaupt über die Krone bis hin zur Industrie, favorisieren jedoch eine Neuauflage der bis 1999 regierenden großen Koalition zwischen ÖVP und SPÖ. Die SPÖ – trotz Dementis von Parteichef Alfred Gusenbauer – scheint sich langsam umzuorientieren. Ob sie aber in der Lage sein kann, das von der ÖVP kompromißlos verlangte Einverständnis mit den Reformen des Wendeprojekts abzugeben, ist dennoch eine große Frage. Eine schwarz-grüne Koalition scheint derzeit unmöglich. Allzu heftig haben die ultralinks stehenden Grünen-Funktionäre die Volkspartei als quasi faschistoide Anpassergruppe an den Haider-Kurs attackiert. Ernster sind da Vorschläge, ein „buntes Kabinett“ zu bilden, wo die ÖVP sich Exponenten verschiedener politischer Lager – Liberale, Grüne, Blaß-Blaue oder Rote ins Boot holt. Doch der parlamentarische Rückhalt wäre fraglich. So bleibt neben einer Neuauflage von Schwarz-Blau noch immer ein Rückgriff auf den Beginn der Ära Kreisky. Schüssel dürfte sich nämlich tatsächlich an Bruno Kreisky und dessen Wahlsieg im Jahre 1970 erinnert fühlen. Die SPÖ hatte damals mit 81 Sitzen gegen 78 (ÖVP) eine relative Mehrheit erzielt und bildete eine von sechs Freiheitlichen tolerierte Minderheitsregierung, um bei vorgezogenen Neuwahlen 1971 später die absolute Mehrheit zu erreichen. Diese hielt Kreisky dann bis 1983. Auch ein Minderheitskabinett Schüssel wäre denkbar und würde im Falle einer SPÖ-Verweigerung wohl auch von Bundespräsident Thomas Klestil angelobt werden. Ob in der Folge beim zwangsläufig vorzeitigen Ende der Legislaturperiode tatsächlich eine absolute Mehrheit für die ÖVP erreichbar wäre, ist eine andere Frage. Bei diesem Punkt allerdings setzen auch Spekulationen um die Zukunft der FPÖ wieder ein: Es gibt Stimmen, die meinen, daß bei Neuwahlen eine Spaltung der Freiheitlichen zum Tragen kommen könnte. Der mittlerweile auf dem ÖVP-Ticket segelnde Finanzminister Karl-Heinz Grasser könnte sich mit der nur zwischenzeitlich aus der Politik ausgeschiedenen Ex-FPÖ-Chefin Riess-Passer und den Kräften um Norbert Gugerbauer zusammentun, um mit entsprechender finanzieller Unterstützung durch das politische Establishment und medialem Begleitschutz (Krone, ORF & Co.) eine österreichische „FDP“ zu gründen. Zweck derselben wäre es, die „FPÖ-Alt“ (die sich nie dazu durchringen ließ, den Bruch mit ihrem vormaligen Übervater Jörg Haider zu wagen), von der politischen Bühne zu drängen. Eine solche, nicht linksliberale (wie das gescheiterte LIF), sondern wirtschaftsliberale Partei wäre dann natürlich ein maßgeschneiderter Koalitionspartner für Schüssels ÖVP, falls dieser die absolute Mehrheit verfehlen würde. Spekulationen beherrschen gegenwärtig die politische Szenerie in der Alpenrepublik. Die einen sehen sich bereits als Minister, die anderen im politischen Abseits, SPÖ-Chef Gusenbauer, der nicht den Vizekanzler unter Wolfgang Schüssel mimen wollte, ist solchen Gerüchten zufolge von der Ablösung bedroht – durch einen roten „Großkoalitionär“. Jörg Haider steht vor dem Absprung als Wehrbeauftragter an die Universität nach Kairo. Finanzminister Grasser wird Nationalbankpräsident und Riess-Passer bekommt eine Spitzenposition im Internationalen Olympischen Komitee IOC. Samt und sonders – zumindest vorläufig – nur Gerüchte. Einer, der all diesem Getuschel und Gerede gelassen begegnen kann, ist der große Wahlsieger Wolfgang Schüssel.
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