Zwei Tage Vorlauf für die Domestiken, bis die Herrschaft anrollt und mit Kind und Kegel das Herrenhaus auf 16 Zimmern bevölkert. Im Selbstversuch spielen zwanzig Komparsen acht volle Wochen rund um die Uhr Herrschaft und Gesinde und versetzen sich in einem mecklenburgischen Gutshaus in die Zeit vor der „hygienischen Revolution“, als man nur am Samstag badete und es die Woche über bei der fünfminütigen Katzenwäsche beließ, weil jeder Tropfen Wasser von der Pumpe im Hof ins Haus getragen werden mußte. Immerhin, Ziehbrunnen und Außentoilette bleiben den Komparsen erspart. Wie viele hatten sich in den Jahrhunderten davor beim winterlichen Gang vom Bett auf den Hof eine Lungenentzündung oder die Schwindsucht eingefangen? Angesichts von Torftoilette und ihrer manuellen Leerung kommt aber dennoch so etwas wie Dankbarkeit für die amerikanische Befreiung von solcherart Hygienestandards auf. Wenn frühmorgens die Küchenmägde wackelige Kerzen in den Fluren plazieren, wird der ganze technologische Sprung seit damals deutlich. Staubsauger, Geschirrspülmaschine? Was für Privilegien! Von Dienstag bis Freitag ab 18.50 Uhr kann in der ARD eine halbe Stunde lang betrachtet werden, wie solche Bedingungen auf die Akteure wirken. Das Stubenmädchen Dagmar kündigte („Es überfordert mich psychisch“) entnervt und krank am zweiten Tag ihren Dienst. Zeitungspapier als Verrichtungsutensil hat offensichtlich die Erste demoralisiert. Die nächste Kandidatin kann sich nun an dem Problem abarbeiten. Man darf gespannt sein, wie viele noch gehen, wenn erst die Hühner und Schweine geschlachtet werden. In der gutsherrlichen Welt nehmen irgendwo zwischen Herrschaft und Gesinde zwei Personen eine Sonderstellung ein: die Mamsell und der Hauslehrer. Wer erwartet hätte, daß diese sich entsprechend der Marx’schen Mittelbautheorien verhalten würden – nach oben katzbuckelnd, nach unten tretend -, wird bald von Mamsell Wiener eines standesstolzen Besseren belehrt. Die Mamsell zögert nicht, die Herrschaft beim Betreten des Hauses im Befehlston zum Abputzen der Schuhe aufzufordern. Mit solcher Impertinenz wird die Gnädige Frau des Hauses mutmaßlich noch zu tun bekommen. Der vorgeschaltete Benimmkurs für das Gesinde für den rechten Umgang mit den Junkern war hier wohl mit seiner Fokussierung auf Servierregeln, Verbeugung und Knicks doch zu oberflächlich. Legitimerweise spielt die selbstbewußte Mamsell Wiener eine dominante Rolle, die sie im Umgang mit dem restlichen Gesinde auslebt. Beim inszenierten Tassenbruch streicht sie mit strengem Blick und sanfter Stimme das „Geschirrgeld“ der kleinen Magd. Als sie den Kutscher auf seine Aufgaben hinweist, bleibt diesem nur, den Rüffel mit einem unterwürfigen „Jawohl“ zu quittieren. Frau Wiener hätte im richtigen Leben Organisationstalent, könnte rund hundert Jahre später „Facility-Managerin“ sein und rechtfertigt unbeabsichtigt die Öffnung aller Dienstposten in der Bundeswehr für Frauen. Herr Moseler, der Hauslehrer, nimmt indessen den sechsköpfigen herrschaftlichen Nachwuchs unter seine gestrenge Obhut. Bei allem Realismus ist nicht zu erwarten, daß er das damals übliche Strafenrepertoire für unbotmäßige Schüler ausschöpfen wird. Zwar hat Herr Moseler sichtlich Spaß an seiner Rolle, das allein läßt jedoch noch nicht auf eine sadistische Neigung schließen. Ihm obliegt in Abwesenheit des Gutsherrn die geistliche Erbauung des Personals. Ganz oben in der Hierarchie des feudalen Landlebens steht Herr Weber nebst Gattin. Die Rolle des gutsherrlichen Patriarchen steht dem Berliner Chirurgen gut zu Gesicht. Sehr schnell hat der Herr verstanden, daß erfolgreiche gutsherrliche landwirtschaftliche Wirtschaft vor hundert Jahren unternehmerisches Geschick vorausgesetzt hat. Das aber ist Herrschaftswissen des 21. Jahrhunderts. Eine wohlsortierte Bibliothek dient in ländlicher Abgeschiedenheit der Erbauung des Grundherrn. Wenigstens wird hier nicht das dämliche Klischee des tumben Junkers bemüht, dessen Lektüre sich mit der Zeitschrift Wild und Hund erschöpft. Was suchen diese Menschen auf ihrer Zeitreise in die ländliche Welt des Feudalismus? Sie wollen etwas erleben, was ihnen kein Film und kein Buch vermitteln kann. Neben (fast) authentischem Leben unter Bedingungen, die sich von denen vor 1789 nicht grundlegend unterscheiden, ist es die Erfahrung von Macht- und Ohnmacht in einer Hierarchie. Vielleicht ist es aber auch – in einer Zeit, in der auch die letzte Regenoase kartographiert und das letzte Korallenriff betreten ist – die Sehnsucht nach Authentizität des Lebens, die die Probanden zu ihrem „Abenteuer 1900“ bewegt hat. Zeitreisen als Selbstfindungsabenteuer? Warum nicht. In Zukunft zahlen Firmen womöglich Geld dafür, daß ihre Leitenden Angestellten, ähnlich wie beim Survivaltraining in Alaska, sich menschlich näherkommen und eine Unternehmensidentität entwickeln. Wegen der strengen Klassenschranken ist bei „Abenteuer 1900“ aber auch das Gegenteil möglich. Vielleicht hassen sich am Ende alle – eine Reaktion auf Streßsituationen, die Reinhold Messner genauso kennt wie Desireé Nick und die Veteranen des „Big Brother“-Containers. Vielleicht rufen auch noch Knechte und Mägde auf Gut Belitz die Republik aus. Diese müssen dann aber damit rechnen, daß Frau Wiener und Herr Moseler sich zur Avantgarde des Proletariats aufschwingen und so oder so das Zepter in der Hand behalten. Zeittunnel: Zwanzig Männer, Frauen und Kinder des 21. Jahrhunderts leben den Alltag einer anderen Welt